Von Hans-Joachim Schönknecht
„Nordöstlich des ‚Herzlandes der Provence‘, der Grafschaft Venaissin rund um die Stadt Carpentras, erhebt sich zwischen der Hochebene von Vaucluse und dem weiten Rhônebecken der wegen seiner Isoliertheit außerordentlich eindrucksvoll wirkende Mont Ventoux, auch ‚Riese der Provence‘ genannt.
Die von Norden und Süden zu seinem Gipfel führenden Straßen, von denen vor allem die auf der Nordflanke verlaufende Bilder von einmaliger Schönheit bietet, und das unvergleichliche Panorama auf dem Gipfel, das von den Hochalpen bis ans Mittelmeer und zu den Pyrenäen reicht, machen den Mont Ventoux zu einer der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Provence.“
So hymnisch preist ein neueres Reisehandbuch die landschaftliche Schönheit des mächtigen Mont Ventoux, und es ist diese Majestät, die den humanistischen Dichter Francesco Petrarca nach eigenem Zeugnis so fasziniert hat, dass er am 26. April des Jahres 1336 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gherardo den Berg in einem anstrengenden Tagesmarsch bezwang. Petrarca selbst berichtet von der Unternehmung in einem Brief an seinen Freund:
„Den höchsten Berg dieser Gegend, den man mit gutem Grund ‚Ventosus‘, den Windigen nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen. Dabei trieb mich einzig das Verlangen, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde mit eigenen Augen kennenzulernen. Viele Jahre hatte dieses Unternehmen mir im Sinn gelegen, denn ich habe, wie du weißt, seit meiner Kindheit in dieser Gegend gelebt, wie es das Schicksal gefügt hat. Dieser Berg aber, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.“
Der langjährige Aufenthalt in der Provence, auf den Petrarca als schicksalhaftes Ereignis anspielt, verdankte sich tatsächlich besonderen Umständen: Im Jahre 1302 hatte Francescos Vater, ein angesehener florentinischer Notar, an einer politischen Verschwörung teilgenommen und wurde mit Verbannung bestraft. Deshalb kommt Francesco 1304 im Exil in Arezzo zur Welt. Nach allerlei Irrfahrten gelangt die Familie schließlich nach Avignon, der Residenz der zu jener Zeit aus Rom vertriebenen Päpste. Der Vater findet hier eine Anstellung, jedoch keine Unterkunft. Deshalb nimmt die Familie Wohnung im nahe gelegenen Landstädtchen Carpentras, das in Sichtweite zu dem eindrucksvollen Berg liegt. Hier betreibt Francesco mit großer Begeisterung seine ersten Studien der antiken Literatur, die seinen Ruhm als Wegbereiter des Humanismus begründen werden, und hierher kehrt er 1326 nach Beendigung des ungeliebten, aber vom Vater erzwungenen juristischen Studiums an der damals berühmten Universität Bologna zurück. In Avignon begegnet Petrarca am Karfreitag des Jahres 1327 in einer Kirche Madonna Laura, der „edlen Frau“, die er zeit seines Lebens aus demütiger Ferne verehren wird. In seinem nicht wie damals üblich auf Lateinisch, sondern in der Volkssprache Italienisch verfassten Gedichtzyklus Canzoniere hat Petrarca dieser Liebe ein literarisches Denkmal gesetzt.
Was aber macht die so viele Jahre zurückliegende Besteigung des Mont Ventoux zu einem Ereignis, das es wert ist, in Erinnerung gerufen zu werden? Die Bedeutung liegt in der vom Dichter selbst gegebenen Begründung, das Motiv seiner Unternehmung sei die Neugierde gewesen, diesen ungewöhnlichen Fleck Erde mit eigenen Augen kennenzulernen. Denn diese Erklärung stellt das vermutlich erste historische Zeugnis einer Landschaftserkundung dar, die keinen praktischen Nutzen im Auge hat und weder kriegerischen noch wirtschaftlichen Zwecken dient, sondern rein um ihrer selbst willen geschieht, die dem Verlangen entspringt, die Natur in ihrer Eigenart zu erleben und ihre Schönheit zu genießen.
Uns Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts, die vom Fernweh und der Sehnsucht nach unberührter Natur getrieben in die entlegensten Zonen des Erdballs aufbrechen, in die Karibik, zum Nordkap und nach Feuerland, das heiße Innere Australiens durchqueren und vom seltsamen Charme der in die Wüste gesetzten Wolkenkratzer Dubais angezogen werden, erscheint Petrarcas Wunsch freilich nicht als ungewöhnlich.
Für dessen Zeitgenossen jedoch hat in jener Epoche des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit die Natur einen gänzlich anderen Stellenwert. Die große Mehrheit lebt bäuerlich und damit ohne Alternative naturnah. Doch ist die Existenz gerade deshalb erhöhten Gefahren ausgesetzt. Ungünstige Witterung führt zu Missernten und Hungersnöten, die fehlenden technischen Möglichkeiten machen die Arbeit zu erschöpfender Fron und in den Zonen nicht gerodeten Landes ist das Leben mitunter durch Raubtiere, durch Bären und Wölfe, bedroht. So fühlt sich der arbeitende Mensch jener Zeit oft hilflos eingespannt zwischen die launische, gewalttätige Natur und seinen feudalen Herrn.
Und noch etwas kommt hinzu: Für den gläubigen Menschen des Mittelalters bildet die Religion das Zentrum des Lebens. Das irdische Dasein gilt als Zeit der Vorbereitung auf das ewige Leben, das als das eigentliche betrachtet wird. Der Mensch ist Viator mundi, ein Pilger durch das irdische Jammertal auf dem Weg zur himmlischen Heimat. Man fürchtet, dass die Hingabe ans Weltliche – und dazu zählt auch der Naturgenuss – die Seele von ihrer eigentlichen Bestimmung, der Hinwendung zu Gott, ablenkt und die Erlangung der ‚ewigen Seligkeit‘ bedroht.
In Petrarcas Lebensanschauung jedoch kündigt sich eine Hinwendung zum Irdischen, zur Natur wie zur Geschichte an, und der zitierte Bericht, dem wir uns jetzt zuwenden wollen, ist das Dokument des beginnenden Wandels.
Im Morgengrauen des 26. April 1336 brechen Francesco und der Bruder Gherardo in Begleitung zweier Träger vom Örtchen Malaucène zu Füßen des Berges zu ihrer Wanderung auf. Bald treffen sie auf einen alten Schafhirten, der ihnen eindringlich von ihrem Vorhaben abrät. Er habe selbst in jungen Jahren den Aufstieg versucht, aber nichts heimgebracht als Erschöpfung und Reue. Seit jener Zeit aber sei nie mehr der Versuch gemacht worden, den abweisenden Berg zu bezwingen. Die Brüder schlagen jedoch die Mahnung des Alten in den Wind, und Francesco rechtfertigt dies mit dem Hinweis, dass „jugendliche Herzen Warnern ja nur ungern Glauben schenken“.
Die Beschreibung des Aufstiegs gerät Francesco noch ganz im Geiste des Mittelalters unversehens zum Gleichnis für die Pilgerfahrt der menschlichen Seele zum Ziel alles Strebens: Während der Bruder unbeirrt und geradlinig auf steilen Wegen dem Gipfel zustrebt, sucht der weniger robuste Francesco die Mühe des Aufstiegs durch die Wahl sanfter verlaufender Pfade zu mildern. Doch er muss bekümmert feststellen, dass seine Weichlichkeit ihn mitunter gar keine Höhe gewinnen lässt und es dann verdoppelter Anstrengung bedarf, um den vorauseilenden Bruder, der Francescos Schwierigkeiten mit freundlicher Ironie kommentiert, wieder einzuholen. Dessen Gedanken aber greifen über das Hier und Jetzt hinaus:
„Ich schwang mich auf Gedankenflügeln vom Körperlichen zum Unkörperlichen hinüber und wies mich selbst mit folgenden Worten zurecht: ‚Was du heute so oft bei der Besteigung dieses Berges hast erfahren müssen, wisse, genau das tritt an dich und an viele heran, die da Zutritt suchen zum seligen Leben Wohl aber liegt das Leben, das wir das selige nennen, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so sagt man, führt zu ihm empor.‘“
Und doch vermögen diese frommen Betrachtungen Petrarcas Lust am Schauen nicht auf Dauer zu bezwingen. Auf dem Gipfel des Berges angelangt, ergreift ihn die Gewalt der Eindrücke mit Macht:
„Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich. Ich schaute zurück nach unten: Wolken lagerten zu meinen Füßen Ich richte nunmehr meine Augen nach der Seite, wo Italien liegt, nach dort, wohin mein Geist sich so sehr gezogen fühlt. Die Alpen selber – eisstarrend und schneebedeckt – erscheinen mir greifbar nahe, obwohl sie durch einen weiten Zwischenraum getrennt sind. Ich seufzte, ich gestehe es, nach italischer Luft, die mehr vor dem Geist als vor den Augen erstand, und ein nicht zu erstickender, glühender Drang, die Freunde und das Vaterland wiederzusehen, ergriff mich …“
Und während der Bruder wegen der vorgerückten Stunde bereits zum Abstieg mahnt, erwacht in Francesco vollends das ‚landschaftliche Auge‘ und erschließt ihm die Großartigkeit der Szenerie:
„Gleichsam erwacht, wandte ich mich um und blickte zurück gen Westen … Die Pyrenäen, Grenzwall der gallischen Lande und Spaniens, sind von dort nicht zu sehen – nicht dass meines Wissens irgendein Hindernis dazwischenträte, nein: nur infolge der Gebrechlichkeit des menschlichen Sehvermögens. Hingegen sah ich sehr klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille und den, der gegen Aigues-Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist. Die Rhône lag mir geradezu vor Augen. Während ich dies alles eins ums andere bestaunte und jetzt Irdisches genoss, dann nach dem Beispiel des Körpers auch die Seele zu Höherem erhob, schien mir gut, in das Buch der Bekenntnisse des heiligen Augustinus zu schauen.“
Und hier, in den berühmten Confessiones des Kirchenvaters Augustinus, die auf Petrarca stets eine tiefe Wirkung ausgeübt hatten, stößt er auf einen Satz, den er als auf sich selbst gemünzt empfindet und der ihn schließlich das ganze Unternehmen der Bergbesteigung als eitel und nichtig verwerfen lässt:
„Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres … und haben nicht Acht ihrer selbst.“
Tief betroffen durch diese Aussage, die der große Theologe und Philosoph des vierten Jahrhunderts gegen die Weltfreude und Diesseitsorientierung des antiken Menschen gerichtet hatte, tritt Petrarca den Rückweg an. Mit dem Entschluss, sich auch von der Welt abzuwenden und nur noch dem Heil der Seele nachzustreben, zerfällt die Landschaftsempfindung in ihm:
„Wie oft habe ich an diesem denkwürdigen Tage, auf dem Rückwege mich umblickend, den Gipfel des Berges betrachtet, und er schien mir kaum eine Elle hoch zu sein gemessen an der Höhe des menschlichen Denkens, wenn dieses sich nicht in irdische Schändlichkeiten verstricken würde.“
So behält schließlich – bereits am Ausgang der Epoche – die mittelalterlich geprägte Weltverneinung in Petrarca noch einmal die Oberhand. Zwar hat er das Neue getan, hat praktisch die Hinwendung zur Natur vollzogen, aber er hat dies Neue noch nicht als solches begriffen und bewusst zu leben gewagt.
Dr. Hans-Joachim Schönknecht, früher Gymnasialprofessor in Köln, lebt als profunder Kenner der italienischen Kultur heute vorwiegend in Pacengo/Gardasee.