Von Jan Mahnert
Politiker sind gerne Freunde großer Worte, wenn es darum geht, die Massen zu begeistern. Nicht selten beziehen sie sich dabei auf historische Texte, deuten diese aber auf Kosten der Wahrheit um. Ein besonders interessantes Beispiel hierfür ist die Rede, die Barack Obama am 20. Januar 2009 im Anschluss an seine Vereidigung als erster schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten hielt. In dieser Rede sagte Barack Obama, die Vereinigten Staaten hätten in schwierigen Zeiten „nicht nur wegen der Fähigkeiten oder der Vision jener in hohen Ämtern weitergemacht, sondern weil wir, das Volk, den Idealen unserer Ahnen und unseren Gründungsdokumenten treu geblieben sind“. Weiter flocht er Elemente aus der Unanhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ein: „Die Zeit ist gekommen, unseren fortdauernden Geist zu bestärken, unsere bessere Geschichte zu wählen, dieses wertvolle Geschenk, diese noble Idee weiterzutragen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde: das gottgegebene Versprechen, dass alle gleich sind, alle frei sind, dass alle eine Chance verdienen, ihr volles Maß an Glückseligkeit zu erstreben“ (Hervorhebung durch den Autor).
Inwieweit bildet Barack Obamas Rede einen Fall von Geschichtsentstellung? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die Unabhängigkeitserklärung und ihre Verfasser unter die Lupe nehmen. Der eigentliche Satz, auf den Barack Obama sich bezieht, lautet: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören (…)“[1] Dieser Satz gilt üblicherweise als Meilenstein der Menschenrechte. Man muss aber staunen: Thomas Jefferson, der an der Ausarbeitung der Unabhängigkeitserklärung mitwirkte und von 1801 bis 1809 Präsident der Vereinigten Staaten war, besaß nicht nur schwarze Sklaven, er war zudem von deren biologischer und intellektueller Minderwertigkeit überzeugt. Zwar hielt Jefferson Sklaverei für eine große Ungerechtigkeit, jedoch meinte er, Schwarze und Weiße müssen in getrennten Gesellschaften leben. Zu seinen Lebzeiten ließ Jefferson lediglich acht seiner Sklaven emanzipieren.[2]
Wer die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787) aufmerksam liest, wird feststellen, dass der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen darin nicht ausdrücklich aufgenommen wurde. Was unter „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten“ zu verstehen war, gab das Oberste Bundesgericht 1857 zu wissen, als es einen Sklaven namens Dred Scott, der gegen seinen Besitzer prozessierte, abblitzen ließ: „Nach unserer Auffassung fallen [die Schwarzen] nicht unter den Begriff ,Bürger‘ in die Verfassung, fielen nie darunter und sollten dies auch nie. Sie können deshalb keines der Rechte und Privilegien der Vereinigten Staaten für sich reklamieren (Ö)“[3] Was ein Schwarzer konkret wert war, lässt sich aus dem Artikel 1 Abschnitt 2 der Verfassung ableiten: „Die Abgeordnetenmandate und die direkten Steuern werden in den einzelnen Staaten, die diesem Bund angeschlossen sind, im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl verteilt; diese wird ermittelt, indem zur Gesamtzahl der freien Personen, einschließlich der in einem befristeten Dienstverhältnis stehenden, jedoch ausschließlich der nicht besteuerten Indianer, drei Fünftel der Gesamtzahl aller übrigen Personen hinzugezählt werden.“[4] Der Begriff „übrige Personen“ bezeichnet die Schwarzen; ein Schwarzer war dementsprechend drei Fünftel eines Weißen wert – kein ganzer Mensch.
Obschon der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) der Propaganda zufolge für die Befreiung der schwarzen Sklaven gefochten wurde, blieb deren Gleichberechtigung nach dem Krieg weitgehend formal: Der 15. Zusatzartikel zur Verfassung verbot zwar ab 1870 die Einschränkung des aktiven Wahlrechts aufgrund der Rasse, der Hautfarbe oder des früheren Sklavenstatus, die Schwarzen mussten aber bis 1965 (!) warten, bevor sie ihre politischen Rechte uneingeschränkt ausüben durften. Viele der früheren Sklavenstaaten erließen nämlich nach dem Bürgerkrieg Gesetze, welche die neu erworbenen Rechte der Schwarzen wieder einschränkten. Geheimbünde wie der Ku Klux Klan und die Knights of the White Camelia wandten offene Gewalt an, um die Schwarzen an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern.
Die Lage der in den Nordstaaten lebenden Schwarzen war kaum beneidenswerter: Sie galten ebenfalls als Bürger zweiter Klasse und waren verschiedenen Diskriminierungen unterworfen. Das Ghetto von Harlem entstand bekanntlich in New York, nicht in irgendeinem Südstaat. Versuche, die Rechte der Schwarzen über gerichtliche Wege durchzusetzen, scheiterten: Im Jahr 1896 verteidigte der Oberste Gerichtshof im Urteil Plessy gegen Fergusson die Verfassungskonformität der Rassentrennungsgesetze, die daraufhin bis in die 1950er in Kraft blieben!
War ein Schwarzer noch drei Fünftel eines Weißen wert, war ein Indianer dagegen gar nichts wert: Auch nach der Einführung des 14. Zusatzartikels zur Verfassung, mittels dessen die Schwarzen im Jahr 1868 theoretisch dasselbe politische Gewicht wie die Weißen erhielten, blieben die Indianer weiterhin von der Volkszählung in Hinsicht auf die Verteilung der Abgeordnetenmandate ausgeschlossen. In seinem Werk Die dunkle Seite der Demokratie schildert Michael Mann, wie die europäischen Siedler bereits im 17. Jahrhundert die Indianer als unbedeutende Größe und Nordamerika als leeres Land betrachteten: Sie meinten, das Besitzrecht käme denjenigen zu, die auch das Land bearbeiten und verbessern; als Jäger und Sammler wurden die Indianer folglich nicht als legitime Besitzer wahrgenommen.
Der ununterbrochene Zustrom von Siedlern hatte für die Indianer zunehmend den Verlust ihrer Lebensgrundlagen zur Folge: „Allein schon der Bau von Straßen und Poststationen, später dann auch von Eisenbahnen, verscheuchte das Wild. Doch die Neuankömmlinge jagten das Wild darüber hinaus bis zur Ausrottung, verkauften Fleisch und Felle, um den unersättlichen Appetit der Städte zu stillen. Die Lebenswelt der Indianer wurde zerstört, und sie starben auch ohne kriegerische Auseinandersetzungen.“[5] Die Landgier der Siedler führte zu Zwangsdeportationen und einige Siedler gingen sogar so weit, offen für den Völkermord zu plädieren.
Während dem Unabhängigkeitskrieg gegen England (1775–1783) befahlen die zukünftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten George Washington und Thomas Jefferson ihren Truppen die Vernichtung der sich mit den Briten verbündenden Indianer. In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Vereinigten Staaten betrieben Washington und Jefferson in Zusammenarbeit mit Missionaren und Schulen eine Assimilierungspolitik, die in den 1820er Jahren jedoch als Misserfolg beurteilt wurde. Die Regierung entschloss sich daraufhin für die Deportation der Indianer in ein neues Stammesgebiet westlich des Mississippis; für viele wurden die Trecks zu einem Marsch in den Tod. Das neue Stammesgebiet brachte den Indianern aber weder Frieden noch Sicherheit: Je weiter die weißen Pioniere und Siedler westwärts vordrängten, desto enger wurde der Lebensraum der Indianer. Aufstände gegen den Landraub und die Verdrängung wurden zumeist mit größter Härte niedergeschlagen.
Tötungen waren jedoch weder die einzige noch die hauptsächliche Todesursache. Michael Mann zufolge starben beispielsweise in Kalifornien 60 bis 80 Prozent der Indianer an Unterernährung, an Hunger und an Krankheiten, gegen die sie nicht immun waren. Insbesondere Geschlechtskrankheiten führten zu einem massiven Geburtenrückgang: „Die indianische Bevölkerung Kaliforniens fiel von 1848 bis 1860 von 150.000 auf 31.000, während die Zahl der Weißen im gleichen Zeitraum von 25.000 auf 350.000 zunahm.“[6] Die Gesamtbilanz der Indianerpolitik der Vereinigten Staaten fasst Heinrich Jordis von Lohausen mit folgenden Worten zusammen: „Der rote Mann wurde durch die bleichgesichtigen Eindringlinge fast vollständig ausgerottet. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sollen in Nordamerika etwa acht, nach späteren Berechnungen sogar dreizehn Millionen Indianer gelebt haben. Nach erfolgreicher ‚Landnahme‘ durch die Weißen waren es noch ungefähr 350.000. Die Volkszählung von 1901 nannte sogar nur die Zahl von 270.000.“[7] Das Verschwinden der Indianer wurde bis auf höchste Staatsebene nicht als bedauernswert empfunden. Theodore Roosevelt, der 1901 zum Präsident wurde, erklärte, die Ausrottung der Indianer sei „letzten Endes ebenso nützlich wie unvermeidlich gewesen“, und fügte hinzu: „Ich gehe nicht so weit zu denken, dass nur tote Indianer gute Indianer sind, aber ich glaube, auf neun von zehn trifft dies zu, und den Fall des zehnten möchte ich nicht allzu gründlich untersuchen.“[8] Dass es heutzutage überhaupt noch Indianer gibt, ist auf eine gewisse Mäßigung der Indianerpolitik gegen Ende des 19. Jahrhunderts zurückzuführen.
Das Schicksal der Schwarzen und der Indianer zeigt, dass in den Vereinigten Staaten über einen langen Zeitraum unter Menschenrechten lediglich die Rechte der Weißen zu verstehen waren. Wurden die Ideale der Unabhängigkeitserklärung verraten? Diese Frage lässt sich nur bejahen, wenn man annehmen kann, dass mit „alle Menschen“ ursprünglich auch wirklich alle Menschen gemeint waren und dass Jefferson mit seinen Ansichten über die Schwarzen alleine da stand. Nun zeigt aber gerade der Völkermord an den Indianern, dass von Beginn an nicht jedes Leben als schützenswert erachtet wurde. Zudem weist Stephen E. Ambrose darauf hin, dass viele Weiße Jeffersons rassistische Ansichten teilten[9] – dies bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Barack Obama überspannte folglich den Bogen, als er sich auf die Ideale der Gründerväter bzw. der Gründungsdokumente bezog. Die Umdeutung historischer Texte ist immer eine heikle Angelegenheit; man kann dabei nicht außer Acht lassen, in welchem Kontext diese Texte entstanden.
Mag. Jan Mahnert ist Soziologe und lebt in der Schweiz
[1] K. Peter Fritzsche, Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004, S. 187.
[2] Claude Fohlen, Histoire de l’esclavage aux Etats-Unis, Perrin, Paris 1998, S. 95–102.
[3] Rosa Amella Plumelle-Uribe, Weisse Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis, Rotpunktverlag, Zürich 2004, S. 195–196.
[4] Ebenda, S. 226.
[5] Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburger Edition, Hamburg 2007, S. 130.
[6] Ebenda, S. 137.
[7] Heinrich Jordis von Lohausen, Denken in Völkern. Die Kraft von Sprache und Raum in der Kultur- und Weltgeschichte, Leopold Stocker Verlag, Graz 2001, S. 168.
[8] Michael Mann, S. 144.
[9] Stephen E. Ambrose, „Flawed Founders. To what degree do the attitudes of Washington and Jefferson toward slavery diminish their achievements?“, in: Smithsonian magazine, November 2002, http://www.smithsonianmag.com/history-archaeology/Flawed_Founders.html