Von Jochen Schaare
Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal
HeraklitVernünftige Einsicht zu haben, ist die größte Tugend, und Weisheit ist es, Wahres zu reden und gemäß der Natur zu handeln, indem man auf sie hört.
Heraklit
In seinem berühmten Buch „Die Vorsokratiker“ heißt es bei Wilhelm Capelle über die Anfänge der Philosophie bei den Ioniern: „An der Westküste Kleinasiens gibt es einen Landstreifen, der für die Geistesgeschichte des Abendlandes mehr bedeutet, als ganze Länderkomplexe der Alten und Neuen Welt zusammengenommen: das alte Ionien, die Heimat desjenigen Zweiges der griechischen Nation, über den der gute Genius unseres Geschlechtes seine Gaben in wahrhaft verschwenderischer Fülle ausgeschüttet hat. Hier entstand das Homerische Epos, hier, an dem Grenzsaum zwischen Morgen- und Abendland, nahmen auch Handel und Schiffahrt schon in grauer Vorzeit einen staunenswerten Aufschwung. Das Haupt der griechischen Städte, die hier in dichter Reihe fast jede Bucht und jeden Winkel der vielfach zerklüfteten Küste besetzt hatten, war Milet, die Mutterstadt von mehr als achtzig Pflanzstädten …“
Auch der Geburtsort von Heraklit, Ephesos, gehört in diese Region. In der Geschichte des griechischen Denkens spielt Heraklit (etwa 540–480 v. d. Z.) eine hervorragende Rolle. Er ist eine der markantesten Persönlichkeiten, von leidenschaftlichem, ur- und eigenwüchsigem und unerhörtem Selbstbewusstsein getragen; seine in schneidende Aphorismen gegossene Sprache, sein Stil offenbart sich in jedem Satz. Wir besitzen noch etwa 125 Fragmente im Originaltext, alle von einer höchst eigentümlichen und unverwechselbaren Form, äußerst pointierte und einprägsame, in sich geschlossene Sätze, die von der unmittelbaren Wirklichkeit sowohl abstrahieren als auch zu ihr hinführen: „Alles, was man sehen, hören, lernen kann, dem gebe ich den Vorzug.“ „Denen, die in dieselben Flüsse steigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu.“
Diese müssen als Bestandteile einer Theorie aufgefasst werden von der „physikalischen Transformationen des Kosmos“ und den entsprechenden Verwandlungen der Seele (Jacques Brunschwig). Heraklit schätzte demnach weniger große Gelehrsamkeit, sondern legte mehr Wert auf Selbsterkenntnis und suchte nach einem letzten Prinzip allen Geschehens, einem Urgrund, den er im Logos, der Weltvernunft, fand. Die Einsichtigen sind gewissermaßen – nach einem Wort Immanuel Kants – „Bürger zweier Welten“, nämlich sie sind wohl Glieder der politischen Gemeinschaft, aber sie gehören auch der Gemeinschaft jener an, die durch den Logos konstituiert wird. Eine politische Gemeinschaft wie die der Bürger von Ephesos kann durch Unkenntnis und Krieg zerstört werden, die Logos-Gemeinschaft der Vernünftigen ist unzerstörbar. Das „Göttliche“ oder Gemeinsame überdauert alle menschlichen Gesetze.
Heraklit stammt aus vornehmsten Geschlecht, sein Denken war durch die Tradition einer Familie geprägt, in der das Königtum erblich war seit König Kodros von Athen, in Heraklits Zeit allerdings nur noch in der abgeblassten Form des Opferkönigtums. Der Denker schlug die ihm angetragene Würde eines Basileus zugunsten eines jüngeren Bruders aus. So kann angenommen werden, dass zwar die religiöse Tradition der Familie eine Rolle spielte, was aber nicht heißt, dass er diese religiösen Vorstellungen einfach übernommen hätte. Als Aristokrat des Geistes und des Geblütes legte er zu den traditionellen religiösen Vorstellungen und der politischen und sozialen Verfassung schärfste Distanz ein.
Sein antidemokratischer Affekt ließ ihn voller Bitterkeit und Verachtung gegenüber seiner Vaterstadt den Rücken kehren, bot der doch hier wahre Orgien feiernde Zeitgeist, die radikale Demokratie, Naturen wie der seinigen keinen Raum mehr zur Betätigung im öffentlichen Leben. So urteilt er nach der Verbannung des „Besten“ der Stadt, seines Freundes Hermodoros, über seine Mitbürger: „Die Ephesier sollten sich samt und sonders, Mann für Mann, aufhängen und den Unmündigen ihre Stadt überlassen, sie, die den Hermodoros, ihren besten Mann weggejagt haben, indem sie sagten: ‚Von uns soll keiner der Beste sein; wenn aber doch, dann anderswo und bei anderen.’ (115)“ Angewidert von dem Treiben des Pöbels, der „Viel-zu-Vielen“, flieht Heraklit in die Einsamkeit der „unentweihten“ Natur, die sich ihm auf Bergeshöhen, in den Wellen des Stromes, am Gestade des ewig ruhelosen Meeres und nicht zuletzt im nächtlichen Sternenhimmel offenbart. Hier zeigen sich ihm, fern vom Getriebe der Menschen, die tiefen Erkenntnisse, die ihn mit so großen Geistern wie Goethe, Nietzsche und Hegel verbinden und diese in seinen Bann schlagen sollten.
Der erste Blick des Heraklit ist dem ewigen Wechsel der Erscheinungen in der sichtbaren Welt zugewandt, dem er in oft packenden Bildern die berühmte Formel des „pántha rhei“ aufgeprägt hat. Dieser Fluss aller Dinge, die gegensätzlichen Kräfte und Eigenschaften, die ständig einander ablösen, weil sie unaufhörlich miteinander im Kampfe liegen, bestimmt das Leben, die Wirklichkeit aller Elemente. Wohin er auch blickt, in der großen Natur wie im Menschenleben, sieht er nur unablässigen Kampf entgegengesetzter Prinzipien. So erscheint ihm der Kampf als dem Weltgesetz eingegeben. Dennoch, durch die coincidentia oppositorum, den Zusammenfall der Gegensätze, aus diesem scheinbaren Chaos und sinnlosem Wirrwarr von tausend Dissonanzen, schimmert eine gewaltige Harmonie durch, eine tiefe Vernunft, die durch alle die Gegensätze bedingt ist. Aber als Realist sagt Heraklit ganz lakonisch: Aber „diese Welt, dieselbige von allen Dingen, hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend (B 58).“ „Und da beten sie zu diesen Götterbildern, gerade wie wenn sich jemand mit toten Steinwänden unterhalten wollte. Sie haben eben vom Wesen der Götter und Heroen keine Ahnung (B 35).“
Heraklits Leben fällt in die bewegteste Zeit des ionischen Kleinasien. Er erlebte den Zusammenbruch des Lyderreiches; König Croesus hatte seinen keineswegs sehr drückenden Einfluss zunächst auf Ionien ausgedehnt. Die Perser vernichteten dieses Reich und der Philosoph erlebte die persische Epoche Ioniens von Cyros dem Großen bis zu Xerxes. Ob Heraklit noch die Befreiung der kleinasiatischen Griechen (479 v. d. Z.) erlebte, lässt sich nicht sagen. Er war etwa um die 40 Jahre alt, als sich die Griechen gegen die Perser erhoben. Der vom Mutterland nur unzureichend unterstützte Aufstand der ionischen Griechen musste für gescheitert angesehen werden, als diese vor Ephesos eine erste schwere Niederlage erlitten (499). Die blühendsten Städte wurden vernichtet, so auch Milet (494), die Wiege der griechischen Philosophie.
Die Perserherrschaft stabilisierte sich und die Zeit des Wiederaufbaus begann. Die Perser sicherten den Ioniern weitgehende Freiheiten zu. Die einzelnen Poleis konnten sich ihre Verfassung selbst wählen, d.h. zugunsten einer aristokratischen, timokratischen und demokratischen. In Ephesos setzten sich schließlich die demokratischen Tendenzen durch, was die Anhänger der aristokratischen Partei, zu denen Heraklit gehörte, zu politischer Ohnmacht verurteilte. Wie Heraklit dies beurteilte, haben wir oben gehört. Es kam also zu einem Erstarken demokratischer, antiaristokratischer Tendenzen in der damaligen Zeit.
So sehr Heraklit der Welt der schönen, gütigen, sehr menschliche Züge tragenden Götter Homers, denen der Grieche doch recht frei gegenübertrat, abhold war, so sehr verdross ihn auch eine andersartige, vom Orient kommende religiöse Unterströmung von großer Mächtigkeit, die im Unterschied zur diesseitigen Helle der homerischen Religion dem Dunkel und dem Jenseits zugewandt war. Diese Religiosität, an der Heraklit keinen Anteil hat, kennt Begriffe wie Sünde, Buße, Reinigung.
Diese Mysterienkulte, über die Heraklit seinen beißenden Sarkasmus ausschüttet, trugen zudem die Züge von Geheimlehren. Große Teile der griechischen Bevölkerung hingen diesen an. Als Verächter der Masse, als Einzelgänger suchte Heraklit im Leben wie im Denken eigene, bis dahin unbetretene Wege. Um diesem ganzen Aberglauben entgegenzutreten, legte er eine Schrift über die Natur im Tempel der Artemis zu Ephesos nieder. Sie ist in einem höchst zugespitzten und eigenwilligen, an Bildern und Vergleichen reichen Stil gehalten, auf „knappsten Ausdruck“ (Hans-Joachim Störig) bedacht und wegen ihrer aphoristischen Kürze dunkel. „Wem weissagt Herakleitos von Ephesos? Den Nachtschwärmern, Zauberern, Bakchen, Mänaden und Mysten. Denen droht er das Totengericht, denen prophezeit er das Feuer“, so heißt es im Fragment 36. Die Vergänglichkeit aller Einzelgebilde, der stete Wechsel und Wandel der Dinge, die Ansicht von der Naturordnung als einer „Rechtsordnung“ (Theodor Gomperz) war Heraklit ebenso vertraut wie seinen philosophischen Vorgängern der ionischen Schule. Denn Aufbau und Zerstörung, Zerstörung und Aufbau, dies ist die Norm, welche alle Kreise des Naturlebens umspannt.
Allen Gestaltungen des Volksglaubens steht er gleich feindselig gegenüber: der Bilderanbetung, die nichts anderes sei, als ob man mit Mauern reden wollte, den Sühneopfern, die eine Befleckung durch eine andere ersetzen, „gleich als ob jemand, der in Schlamm getreten, sich wieder mit Schlamm abwaschen wollte, dem „schamlosesten“ Treiben des Dionysoskultes nicht weniger als den unheiligen Weihen der Mysterien.
Heraklit spricht von einem Urfeuer, aus dem nach ewigem Gesetz „nach Maßen“ die Welt mit ihren Gegensätzen hervortritt und in das sie wieder zurückfällt. Das Walten der Gottheit, „die mit dem Weltprinzip, dem Weltgesetz, der Natur identisch usw. ist (Wilhelm Capelle), hält er den Abergläubigen vor. „Er sagt aber auch, dass ein Gericht über die Welt und alle Dinge in ihr durch das Feuer stattfinde…: ‚Alle Dinge steuert der Blitz’, d.h. er lenkt sie. Unter Blitz versteht er hier das ewige Feuer. Er sagt auch, das Feuer sei vernunftbegabt, und es regiere alle Dinge“ (Fragment 57). So soll doch auch der Kosmos selbst, gleich wie er aus dem Urfeuer hervorgegangen ist, wieder in dasselbe zurückkehren – ein Doppelprozess, der sich in Fristen ungeheurer Zeiträume abspielt und immer wieder von neuem abspielen wird. Aus Feuer sind die Stoffformen entsprungen, in Feuer werden sie dereinst wieder aufgehen, damit der Differenzierungsprozess von neuem beginne und wieder zum gleichen Abschluss gelange. Diese Weite des Blicks verbindet ihn mit den großen Naturforschern der Moderne. Ein Feuerball stellt den Anfangs- und ein solcher wieder den Endpunkt jeder Weltperiode dar.
Das große Gesetz, nach dem sich aus der einen Ur-Energie unablässig die Vielfalt entfaltet, ist die Einheit der Gegensätze, geschieht im polaren Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte. „Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Hunger.“ In diesem Sinne ist Kampf, ist Krieg „aller Dinge Vater, aller Dinge König“. Jedes Ding bedarf zu seinem Sein seines Gegenteils. „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinn zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“ Dem Blick des Ephesiers enthüllt sich also allenthalben ein Spiel gegensätzlicher Kräfte und Eigenschaften, die sich wechselseitig fördern und bedingen. Kampflose Ruhe lässt alles erschlaffen, erstarren und verderben (Theodor Gomperz).
Deshalb, so Hans-Joachim Störig, haben diejenigen Unrecht, die ein Ende allen Kampfes in einem ewigen Frieden herbeisehnen. „Denn mit dem Aufhören der schöpferischen Spannungen würde totaler Stillstand und Tod eintreten.“ Darum wäre es für den Menschen auch nicht gut, wenn er an das Ziel all seiner Wünsche käme, denn „es ist die Krankheit, die die Gesundheit angenehm macht, nur am Übel gemessen tritt das Gute in Erscheinung, am Hunger die Sättigung, an der Mühsal die Ruhe.“ Dieses ist wohl das erste Modell dialektischer Entwicklungslehre, die nach mehr als zwei Jahrtausenden bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel wieder aufersteht, und die vielleicht den bisher gelungensten Versuch des Menschengeistes darstellt, dem „Geheimnis des Werdens“ mit dem Denken beizukommen.
Joachim Schaare wirkt als Pädagoge in Salzgitter.