Unhaltbare Vorstellungen zur Beschäftigungspolitik


Das „Arbeitsvolumen“ kann nicht wie ein Kuchen umverteilt werden

 

Von Gerulf Stix

Von keinem Geringeren als dem Sozialminister der Bundesregierung in Wien verlautete jüngst die Aussage, würde man alle in Österreich geleisteten Überstunden in Vollzeit-Arbeitsplätze umwandeln, dann gäbe es keine Arbeitslosigkeit mehr. Oder in der anderen Version: Die Österreicher arbeiten im EU-Vergleich mit 42,9 Wochenstunden am längsten. Könnte man die durchschnittliche Arbeitszeit auf die in Dänemark üblichen 39,5 Stunden verringern, würden – so Minister Hundstorfer – 84.000 neue Jobs geschaffen werden. Für Wirtschaftspraktiker wie für kompetente Wirtschaftstheoretiker ist es einfach nicht zu fassen, dass derart unhaltbare Vorstellungen in den Köpfen höchstverantwortlicher Politiker herum spuken. Dazu seien hier einige Argumente vorgetragen.

Zunächst aber muss der Vollständigkeit halber die sehr pointiert vorgebrachte Replik des WK-Präsidenten Leitl erwähnt werden. Ohne generell Leitls Partei ergreifen zu wollen, muss ihm bei seiner Replik auf Hundstorfer Recht gegeben werden. Es stimmt eben, dass die Firmen, die Unternehmungen, das Instrument der Überstunden einfach brauchen, um bei unerwarteten Schwankungen der Auftragslage, in diesem Fall bei plötzlichen Auftragseingängen oder Terminengpässen, kurzfristig flexibel reagieren können. Wer sollte denn beispielsweise im Maschinenbau kurzzeitige Mehrarbeit leisten können, wenn nicht das eingearbeitete, erfahrene und entsprechend ausgebildete Stammpersonal? Jeder Betriebsführer würde unverantwortlich handeln, dafür einfach neue Leute anzustellen, was nur in manchen Sonderfällen gelingt. Erst wenn sich dauerhaft eine größere Auftragslage am Markt abzeichnet, wird ein Betrieb daran gehen, ständig hohe Überstunden durch Einstellung neuer Kräfte abzubauen. Und dazu braucht er auch keinen politischen Auftrag, denn er wird selbst daran interessiert sein, weil Überstunden nämlich sehr teuer sind.

Flexicurity in Nordeuropa

Der von Hundstorfer erwähnte Vergleich mit Dänemark legt nahe, einige genauere Blicke auf Dänemark zu werfen. Denn tatsächlich ist die dänische Beschäftigungs- und Sozialpolitik offensichtlich erfolgreich und damit interessant. Eine im weltweiten Vergleich hohe Beschäftigungsrate, deutlich weniger Langzeitarbeitslose (als z. B. Deutschland) und eine finanziell großzügige Abfederung für Arbeitslose (bis zu 90 % des letzten Monatsgehaltes!) verdienen wirklich die Aufmerksamkeit aller Sozialpolitiker. Damit hat sich nicht zuletzt unser Autor Hanns-Arnulf Engels in den Genius-Lesestücken, Heft 1/2007, unter dem Titel „Arbeitsmarktpolitik mit Zukunft“ gründlich auseinander gesetzt. Er legt dar, wie in Dänemark völlig anders mit diesen Problemen umgegangen wird als etwa in Deutschland oder Österreich oder gar in den südeuropäischen Ländern. So gibt es in Dänemark nicht den bei uns stark ausgebauten Kündigungsschutz für Arbeitnehmer. Dort gleicht das System mehr dem amerikanischen „hire and fire“ – allerdings mit dem großen Unterschied einer wirklich umfassenden sozialen Absicherung für Arbeitslose. Der dänische Arbeitsmarkt ist viel flexibler als bei uns. Die Arbeitnehmer wissen, dass sie sich anpassen und fortbilden müssen. Solche Fortbildung wird übrigens auch in Österreich groß geschrieben und das ist gut so.

Nachdem sich das dänische Modell in der Praxis als erfolgreich herausgestellt hat, nimmt es nicht Wunder, dass sich insbesondere die anderen nordischen Länder daran ein Vorbild nahmen. Aus der jahrelangen Praxis mit diesen beschäftigungs- und sozialpolitischen Maßnahmen entwickelte sich so etwas wie ein neues Modell. Diesem gab man den Namen „Flexicurity“; ein Kofferwort aus dem englischen „flexibility“ und „security“. Unter Fachleuten ist das mittlerweile ein fester Begriff. Dieser wird aber leider öfters bloß als Schlagwort verwendet, dabei auch gelegentlich abwertend, meist in oberflächlich geführten Diskussionen. Man muss sich nämlich wirklich mit diesen komplexen Zusammenhängen von Arbeitswelt und unkonventioneller Sozialpolitik und Kaufkraft gründlich befassen, um Flexicurity richtig zu verstehen. Das lohnt sich, weil die nordischen Erfahrungen damit gut sind.

Es gibt kein feststehendes Arbeitsvolumen

Zurück in die Vorstellungswelt, aus welcher heraus u. a. solche Äußerungen wie die des österreichischen Sozialministers entstehen. Da geistert immer wieder die Idee von einem gewissermaßen „vorhandenem Arbeitsvolumen“ herum. Dieses müsse dann so verteilt werden, dass eben alle eine Arbeit finden. Manchmal wird das Bild von einem Kuchen bemüht, der in genügend viele Stücke aufzuteilen sei. Auf Grund solcher Vorstellungen kam es auch und kommt es immer wieder zu dem Vorschlag, bei hoher Arbeitslosigkeit einfach pauschal die Herabsetzung der Arbeitszeit zu verordnen, um alle Arbeitslosen unterzubringen. Aber das funktioniert so nicht, weil es das unterstellte „Arbeitsvolumen“ als vorgegebene Größe schlicht und einfach nicht gibt. „Arbeit“ entsteht und vergeht, indem sie nachgefragt, angeboten und geleistet wird oder nicht.

Recht einprägsam formulierte dies jüngst Beat Kappeler: „Wer arbeitet, wer lange arbeitet, nimmt anderen nicht die Arbeit weg. Das Arbeitsvolumen in einem Lande ist kein Kuchenstück, das einfach umverteilt werden kann, wenn es Arbeitslose gibt. Doch die 35- oder 36‑Stunden-Woche in Kontinentaleuropa wurde vor einem Vierteljahrhundert meist mit dem Umverteilen der Arbeit schmackhaft gemacht. Seither haben Deutschland oder Frankreich die doppelte Arbeitslosenrate von damals. Länder, in welchen die Menschen viel und lange arbeiten, registrieren dagegen die geringsten Arbeitsmarktprobleme.“ („NZZ“ am Sonntag, 2. August 2009) Kappeler weist zu Recht auf den Zusammenhang mit dem Kreislauf der Kaufkraft hin: „Wenn die Arbeitsbeteiligung einer Bevölkerung hoch ist, dann verdient man pro Kopf auch mehr, gibt dies aus, und andere können dafür wieder arbeiten.“ Ohne nachfragende Kaufkraft entstehen keine Arbeitsplätze.

Kappeler bestätigt auch die langfristig günstigen Auswirkungen auf die Beschäftigungslage, wenn der Arbeitsmarkt flexibel ist, d. h. die Unternehmungen rasch Kräfte aufnehmen oder wieder kündigen können. Das erlaubt der Wirtschaft, auch kleinere Marktchancen schneller wahrzunehmen und somit die Einkommenssituation letztlich für alle anzuheben. Gleichzeitig verbessert eine auf gesamtwirtschaftliche Mehrleistung sich abstützende Sozialversicherung deren bessere Finanzierung. Bloße Arbeitsumverteilung hingegen belastet das Sozialversicherungssystem.

Es gibt die „geschlossene Volkswirtschaft“ nicht mehr

Die Anhänger der nur scheinbar plausiblen Vorstellung vom „Arbeitskuchen“, der zu verteilen sei, unterschätzen meist auch die Tatsache, dass wir heute zur ganzen Welt hin offene Wirtschaften haben. Die weitgehend geschlossenen Volkswirtschaften früherer Zeiten gibt es so nicht mehr. Österreich verdankt seine Gesamtwirtschaftsleistung zu mehr als einem Drittel der Verflechtung mit der Weltwirtschaft! Um in dieser erfolgreich bestehen zu können, braucht es in erster Linie die Fähigkeit der einzelnen Unternehmungen, sich rasch neuen Erfordernissen auf ihren speziellen Märkten, egal wo, anpassen zu können. So kann z. B. eine exportorientierte Firma mitten in der Wirtschaftskrise lukrative Aufträge an Land ziehen, während im Inland die Branche lahmt. Starre Arbeitsregelungen, die alles über einen Leisten schlagen, bremsen oder verhindern in solchen Fällen das schnelle Ausnützen der Marktchance, die vielleicht nur eine vorüber gehende ist. In Summe macht sich die bessere Anpassungsfähigkeit Einzelner aber für alle bezahlt, weil dadurch viele kleine, positiv drehende Spiralen in Gang gesetzt werden. Genau auf diesen Effekt setzt das Modell der Flexicurity.

Einen großen Wirtschaftsbereich, der gerade für Österreich von wesentlicher Bedeutung ist, stellt der Tourismus dar. Wie auslandsabhängig dieser ist, bedarf hier keiner weiteren Erklärung. Daher gilt alles, was über Flexibilität gesagt wurde, in ganz besonderem Ausmaß für die Tourismuswirtschaft. Diese steht und fällt mit flexiblen Arbeitsmärkten und Arbeitsregeln. Praktiker der Tourismuswirtschaft können über begrenzte Wochenarbeitszeit und beschränkte Überstunden nur lachen. Dennoch sind selbstverständlich auch hier sozialrechtliche Regelungen geboten. Aber sie müssen praxisorientiert sein und dürfen die existenznotwendige sofortige Anpassung an rasch wechselnde Betriebsauslastungen nicht verhindern. Gehen nämlich die Arbeitgeber kaputt, stehen alle Arbeitnehmer auf der Straße, nicht nur die vorher durch Kündigung „abgebauten Leute“.

Wohlstand und Arbeitszeitverkürzung in Synchronisation

Abschließend sei einem möglichen Missverständnis vorgebeugt. Was hier ausgeführt wurde, zielt ganz und gar nicht auf unbegrenzte Arbeitszeiten ab. Wir genießen heutzutage einen im Vergleich mit früheren Zeiten gigantischen Produktivitätsfortschritt im Arbeits- und Wirtschaftsbereich. In meiner Jugendzeit erlebte ich noch, dass eine allgemeine 48-Stunden-Woche selbstverständlich war, desgleichen ein Jahresurlaub von höchstens 14 Tagen (den man sich kaum leisten konnte, weshalb er z. B. im städtischen Schwimmbad verbracht wurde). Dass sich die eingetretene Produktivitätssteigerung nicht nur in höheren Einkommen, sondern parallel dazu auch in durchschnittlich kürzeren Arbeitszeiten niederschlägt, ist sachlich begründet und völlig gerechtfertigt. Das hat sich in einem dynamischen Prozess nach und nach so ergeben: Technischer Fortschritt und Marktöffnung, Gewerkschaften und Arbeitgeber, Sozial- und Wirtschaftspolitik haben daran mitgestaltet. Und dieser Prozess soll und wird weitergehen. Unsere Verantwortung besteht darin, ihn dynamisch zu erhalten, anstatt mit starren Zwangsvorstellungen hinein zu pfuschen. Die komplexe Arbeitswelt lässt sich nicht in irgendein einfaches Schema pressen.

Arbeit ist nicht gleich Arbeit. Das Werken am Hochofen gleicht nicht dem vor dem Bildschirm, die Landarbeit nicht dem Schuldienst, die Arbeit im Gastgewerbe nicht der des Flugpiloten. Allzu pauschale Regelungen passen vielfach nicht. Jede sinnvolle Arbeitsmarktpolitik muss von dieser Erkenntnis ausgehen. Daher ist vor scheinbar einfachen Patentrezepten à la Umverteilung des Arbeitsvolumens dringend zu warnen.

Bearbeitungsstand: Montag, 10. Jänner 2011

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