Von Karl Socher
Als Argument für eine Zulassung von mehr Einwanderung wird häufig angeführt, dass damit das Wirtschaftswachstum erhöht werde. Tatsächlich wird eine Einwanderung von Personen, die ihr Einkommen durch eigene Leistungen verdienen, das Brutto-Nationalprodukt durch ihren Beitrag erhöhen. Es gibt aber eine Reihe von Gründen dafür, dass dadurch der Wohlstand der einheimischen Bevölkerung nicht unbedingt erhöht, sondern unter Umständen sogar gesenkt werden kann.
Der Wohlstand der Bevölkerung eines Landes hängt nicht von der Höhe des Sozialprodukts ab, sondern von vielen anderen Faktoren, deren Messung nicht einfach ist. Für die „rein ökonomischen“ Faktoren des Wohlstandes ist vor allem das Einkommen pro Kopf von Bedeutung, das man auch durch das Brutto-Nationaleinkommen (BNE), das Brutto-Nationalprodukt (BNP) oder Brutto-Inlandsprodukt (BIP) ausdrücken kann. Durch eine Einwanderung wird diese Summe rein rechnerisch nicht automatisch erhöht, sondern nur dann, wenn die Einwanderer ein höheres Einkommen pro Kopf erzielen als die Einheimischen. Das ist aber bei der heutigen Masse der Einwanderer nicht der Fall, es handelt sich zum größten Teil um wenig qualifizierte Arbeiter, die meist nur relativ niedrige Löhne erzielen.
Nun könnte man argumentieren, dass es für die Einwanderungspolitik, die ja von den Politikern gestaltet wird, auf die Einkommen der Wähler und nicht auf die der noch nicht wahlberechtigten Einwanderer ankommt. Durch die Arbeit der Einwanderer, die die wenig attraktiven Arbeiten erfüllen, könnten ja die auf diesen Arbeitsplätzen arbeitenden Einheimischen höher qualifizierte und dadurch höhere Einkommen bietende Jobs annehmen, sodass der Wohlstand der Einheimischen (auf Kosten der Einwanderer) grösser wird.
Bis zu einem gewissen Grad ist das tatsächlich möglich gewesen, etwa in der Schweiz zu Beginn der Einwanderung. In Österreich ist etwas Ähnliches bei der Anwerbung von türkischen Arbeitskräften für die Textil-Industrie erfolgt. Man wollte damit die Textil-Industrie vor dem Strukturwandel retten, weil sie durch die Importe von Billig-Lohnländern bedroht war. Der Strukturwandel konnte aber nur kurzfristig aufgehalten werden, heute sind die Arbeitskräfte in andere Industriezweige, z. B. Metall-Industrie abgewandert – etwa in Telfs, Tirol, wo statt der Textilfabriken jetzt ein Minarett steht. Die Metallindustrie hätte genau so gut einheimische Arbeitskräfte anwerben können.
Statt vorübergehenden Vorteilen für die einheimischen Einkommen ist aber auch der umgekehrte Fall möglich: Die Einwanderer übernehmen Arbeitsplätze in Bereichen, die keine Sprachkenntnisse und Qualifikation erfordern, wie Bauwirtschaft, Tourismus und Pflegebereich, und verdrängen dort die einheimischen Arbeitskräfte, die nicht bereit sind, zu niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen zu arbeiten. Diese ziehen dann teilweise Arbeitslosigkeit einem Wechsel in andere Orte oder Berufe vor. Damit sinkt das Einkommen pro Kopf der Einheimischen. Politiker können sich aber bei ihrem Ruf nach mehr Einwanderung auf die jeweiligen Vertreter der Wirtschaftssektoren, wie Textil-Industrie oder Tourismus berufen, die nach mehr Zulassung von ausländischen Arbeitskräften rufen, „weil keine inländischen Arbeitskräfte verfügbar“ seien.
Ein weiteres Argument für die Einwanderung ist die Behauptung, für die Erhaltung des Sozialsystems wären Einwanderer unerlässlich, weil sie die notwendigen Beiträge für die Erhaltung des Systems liefern. Das ist aber nur ein, wenn überhaupt wirksames, Argument für ganz kurze Zeit. Es wirkt dann nicht, wenn Einwanderer das Sozialsystem z. B. durch Kindergeld bzw. Transferzahlungen aller Art, in Anspruch nehmen und dazu wenig oder keine Einkommensteuer zahlen.
Auf längere Sicht könnte das österreichische Pensionssystem nur dadurch aufrechterhalten werden, dass eine immer höhere Einwanderung einen vorübergehenden Beitrag leistet. Früher oder später nehmen aber die Einwanderer das Pensionssystem selbst in Anspruch, das in seiner jetzigen Form auf Dauer unhaltbar ist. Die einzige längerfristige Erhaltungsmöglichkeit ohne Einwanderung, Beitragserhöhung oder Pensionskürzung ist ein späterer Pensionsantritt als die jetzigen 59 Jahre.
Ein wichtiger Faktor für den Wohlstand pro Kopf ist der Konsum pro Kopf. Im Maßstab des Brutto-Nationaleinkommens, BNP und BIP sind die Brutto-Investitionen einbezogen. Das sind diejenigen Investitionen, die zu einem Teil der Re-Investition dienen, also der Aufrechterhaltung des Kapitalbestandes, und die Netto-Investitionen zur Erweiterung des Kapitalbestandes. Wieviel Kapital erhalten und erweitert werden soll, hängt auch vom Bevölkerungswachstum ab. Wächst z. B. die Bevölkerung (durch Einwanderung oder Geburtenüberschuss), sind mehr Investitionen notwendig, um den Lebensstandard zu erhalten und zu erhöhen.
In Österreich würde die Bevölkerung ohne die Einwanderung in Zukunft schrumpfen. Das wird vielfach als ein Nachteil angesehen, das Wirtschafts-Wachstum könnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Aber das ist nur dann eine richtige Aussage, wenn sie sich auf die Summe des BNE bezieht, aber nicht auf das BNE pro Kopf. Das BNE pro Kopf kann auch bei schrumpfender Bevölkerung zunehmen, wobei sogar weniger Investitionen notwendig sind als bei einer wachsenden Bevölkerung. Bei wachsender Bevölkerung muss vom Sozialprodukt mehr für Infrastruktur wie Straßen und vor allem Wohnbau ausgegeben werden, das heißt, dass bei schrumpfender Bevölkerung mehr vom Sozialprodukt für Konsum verwendet werden kann. Der Konsum pro Kopf ist ein noch besserer Maßstab für den Wohlstand als das BNE.
Beispiel für eine schrumpfende Bevölkerung ohne Wohlstandsverlust (Konsum/Kopf) ist z. B. die Entwicklung von Wien, dessen Einwohnerzahl von 2 Millionen am Beginn des Ersten Weltkriegs bis nach dem Zweiten Weltkrieg zurückging. Der Wohlstand nahm allerdings durch die Weltwirtschaftskrise und die beiden Weltkriege – so wie im gesamten Österreich – nicht zu.
Ein Problem bei schrumpfender Bevölkerung ist die dadurch eintretende „Überalterung“, d. h. der wachsende Anteil von Pensionisten. Am Beginn dieses Schrumpfungsprozesses wird sogar der Wohlstand noch erhöht, weil der Anteil der Kinder, die noch keinen Beitrag zum Einkommen leisten, dafür aber Sozialleistungen in Anspruch nehmen, geringer wird. Diese Entwicklung ist aber in Österreich nicht erfolgt, weil durch die Einwanderung zum Teil auch Kinder mit einwanderten und die Einwanderer mehr Kinder bekamen als die Einheimischen.
Zum Wohlstand gehört auch der Zustand der Umwelt. Die Umwelt-Inanspruchnahme und damit Belastung steigt mit wachsender Bevölkerung. Das heißt, dass die Einwanderung auch auf die Umwelt Auswirkungen hat und zu einem geringeren Wohlstand pro Kopf der Bevölkerung führen kann.
Ein weiterer wichtiger Faktor bei Wohlstandsmessungen, die heute auch versuchen, den „Glückszustand“ zu erfassen, ist die Zufriedenheit in der Gesellschaft und damit die Abwesenheit von Spannungen zwischen den Gesellschaftsgruppen. Darunter fallen auch die Auseinandersetzungen mit ethnischen Gruppen, wie auch mit den Einwanderer-Gruppen.
Es ist kein Zufall, dass dieser „Glücksfaktor“ in Ländern mit homogenen Bevölkerungen größer ist als in Ländern mit Spannungen zwischen den Gruppen, sei es au Grund sprachlicher, religiöser, rassischer oder anderer Unterschiede. Ein Großteil der Einwanderer gehört meist anderen Gruppen an als die Einheimischen, sodass durch die Einwanderung Spannungen erzeugt werden können, die sozusagen den „seelischen“ Wohlstand beeinträchtigen.
Alle diese Faktoren müssten bei einem Konzept für die Einwanderungspolitik bedacht und abgewogen werden. Dazu fehlt es leider in Österreich an einschlägigen wissenschaftlichen Studien, sodass kurzfristige Einzelinteressen in der Politik überwiegen – ganz ähnlich, wie bei der notwendigen Reform des Pensionssystems.
Em. Univ.-Prof. Dr. Karl Socher lehrte Politische Ökonomie an der Universität Innsbruck, ist u.a. Mitglied im Verein für Socialpolitik und in der Mont Pelerin Society.