Von Jan Mahnert
Das Phänomen der Territorialität, d. h. der Inbesitznahme eines Territoriums und seiner Verteidigung gegen „Andere“, wird in der Regel mit dem (heutzutage gesellschaftlich und politisch geächteten) Nationalismus in Zusammenhang gebracht. Es wäre aber irreführend, Territorialität auf Nationalismus zu reduzieren: Territoriales Verhalten lässt sich auch in anderen Kontexten feststellen.
In seinen Werk Die Biologie des menschlichen Verhaltens erklärt Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dass Territorialität sicher ein universelles Verhalten ist und dass die Anlagen dafür sehr wahrscheinlich auf altes Primatenerbe zurückgehen: „Die meisten der höheren Wirbeltiere (Vögel, Säuger, Reptilien) sind territorial. Sie besetzen einzeln, paarweise oder in geschlossenen Gruppen bestimmte Gebiete, die man Territorien oder Reviere nennt, und sie verteidigen diese notfalls gegen Eindringlinge […] Der Mensch zeigt ebenfalls weltweit die Neigung, Land in Besitz zu nehmen und sich auf verschiedenen Ebenen gegen andere abzugrenzen: als Gruppe gegen andere Gruppen, innerhalb der Gruppe als Familie und Sippe gegen andere Familien und Sippen sowie als Individuum innerhalb der Familie.“ Eibl-Eibesfeldt fügt hinzu: „Für uns Menschen wäre eine Existenz ohne die Behauptung von Landrechten, also ohne Territorialität, schwer vorstellbar.“[1]
Wie universal Territorialität ist, zeigen paradoxerweise Menschen, die sich als antinational ausgeben und den Abbau von Landesgrenzen sowie eine totale Personenfreizügigkeit fordern. Ich denke hier insbesondere an die linksextremistische Antifa-Bewegung, die einerseits Fremdenfreundlichkeit und Toleranz predigt und sich andererseits nach Kräften bemüht, dem Nationalismus, so ihr Motto, „keinen Fußbreit“ zu lassen. Der Begriff „Fußbreit“ hat eindeutig eine territoriale Dimension. Er besagt: „Wo wir stehen, da seid Ihr unerwünscht“. Damit ist deutlich, dass „antinational“ nicht mit „antiterritorial“ zu verwechseln ist.
Nicht nur Linksextremisten, sondern auch Liberale haben einen Sinn für Territorialität und Ausgrenzung. Karl Popper hat den Begriff der „Offenen Gesellschaft“ geprägt. Doch wie offen kann eine Gesellschaft sein? Die Menschenbilder und Wertvorstellungen, auf denen eine Gesellschaft beruht, ziehen immer eine Linie zwischen Erlaubtem und Verbotenem, setzen Tabus.
In den westlichen liberalen Demokratien, die Weltoffenheit zum moralischen Imperativ erklärt haben, werden Nationalismus und/oder Kritik an Einwanderung als Akt der Intoleranz ausgelegt und entsprechend geahndet, denn, so Karl Popper, „Ideologien, die Intoleranz predigen, verlieren ihren Anspruch auf Toleranz“.[2] Wir dürfen uns hier nicht verwirren lassen: Die Begriffe „Toleranz“ und „Intoleranz“ sind häufig Kampfbegriffe. Sie dienen oftmals nicht der sachlichen Beschreibung einer Haltung, sondern der Stigmatisierung des politischen Feindes. Wer Intoleranz mit Intoleranz begegnet, darf sich nicht tolerant nennen – könnte man meinen. Doch verstehen die Antinationalen linker und liberaler Prägung es hervorragend, die eigene Intoleranz als „positiv“ und „notwendig“ auszulegen. Sie ist in der Tat notwendig: Sie dient nämlich der Sicherung der weltanschaulichen und politischen Vorherrschaft durch Einschüchterung der Massen und Ausgrenzung des politischen Feindes.
Territorialität hat eine sehr konkrete Folge: Innerhalb eines gegebenen Territoriums hat es grundsätzlich nur für ein gesellschaftliches System Platz. Versucht ein zweites, auf anderen Menschenbildern und Wertvorstellungen basierendes System sich zu etablieren, kommt es zu Konflikten, bei denen jede Seite um die Vorherrschaft kämpft.
Verschiedene Beispiele kommen einem da in den Sinn: Die Verdrängung des europäischen Heidentums durch die Christen in der Spätantike und im Mittelalter; die Verdrängung der vorislamischen Religionen in weiten Teilen Afrikas, Zentralasiens und Asiens infolge der Ausbreitung des Islams außerhalb von Arabien; die Abschaffung der Monarchie und die Ausrottung des Adels in Frankreich nach der Revolution von 1789 und in Russland nach der bolschewistischen Revolution von 1917; der Krieg zwischen Republikanern und Nationalisten in Spanien von 1936 bis 1939; der Krieg zwischen Liberalismus und Kommunismus in Vietnam von 1955 bis 1975.
Besonders lehrreich ist die Zeit der Reformation in West- und Zentraleuropa: Die Ausbreitung des reformierten Glaubens in diesen zuvor rein katholischen Gebieten kam der Kirche der Erscheinung eines Fremdkörpers in der christlichen Welt gleich, den es auszumerzen galt. Es folgten blutige Kriege, deren Lösung schließlich darin bestand, durch das Prinzip cuius regio eius religio (die Fürsten bestimmten selber die Konfession innerhalb ihres Territoriums) wieder religiös homogene Gebiete herzustellen.
Der Wunsch nach Homogenität ist auch in antinational geprägten Gesellschaften zu beobachten: Diese verurteilen den Nationalismus, der für ethnische Homogenität steht, streben aber selbst nach politisch-moralischer Homogenität. Sie predigen Toleranz und Pluralismus, jedoch darf ihr Grundglaube – der Glaube an die Gleichheit aller Menschen – nicht in Frage gestellt werden. Abweichende Meinungen sind grundsätzlich unerwünscht. Das Sperrfeuer, dem „nationale“ Parteien üblicherweise ausgesetzt sind, ist Beweis genug dafür.
Angesichts der Tatsache, dass gesellschaftliche Systeme nach Homogenität streben und ihr Territorium als unteilbar betrachten, können nationale oder regionale (d. h. räumlich begrenzte) Systeme am ehesten zum Schutz des allgemeinen Pluralismus beitragen. Globale (d. h. räumlich unbegrenzte, weltumspannende) Systeme führen dagegen zwangsläufig zu einer Einschränkung des Pluralismus, da sie weltweit ein einziges Modell durchsetzen, ja auch aufzwingen wollen.
[1] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, Seehamer Verlag, Weyarn 1997, S. 455 und 469.
[2] Karl R. Popper, Alles Leben ist Problemlösung. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, Piper Verlag, München 2006, S. 214.
Mag. Jan Mahnert, Jg. 1973, hat Geografie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Genf studiert.