Von Helmut Krünes
Was darf der Staat von seinen Bürgern verlangen – was ist der Einzelne bereit für seinen Staat zu tun? Der dauerhafte Bestand eines Staates ist nur gewährleistet, wenn seine Bürger das Gefühl haben, dass die Verfolgung ihrer individuellen Lebensziele durch diesen Staat besser – oder zumindestens ausreichend – gesichert ist als durch andere Systeme. Sicherheit nach außen wie auch im Inneren sind daher wesentliche Aufgaben eines Staates.
Den meisten Österreichern ist in der Zeit des Kalten Krieges exemplarisch am Beispiel der DDR, Ungarns und der CSSR gezeigt worden, wie hilflos kleine Staaten der Bedrohung durch große Militärmächte ausgesetzt sind. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Bedrohungsbild geändert, aber der Balkankonflikt hat gezeigt, dass Österreich in der direkten Nachbarschaft kriegerische Auseinandersetzungen erfahren kann. Wieder war dabei zu beobachten, wie hilflos die Bevölkerung eines Landes einem plötzlichen Krieg ausgeliefert ist.
Seither sind die Bedrohungen durch klassische kriegerische Handlungen innerhalb Europas hoffentlich für lange Zeit sehr unwahrscheinlich geworden. Das bedeutet aber nur, dass andere Gefahren stärker zu gewichten sind. Terror, Katastrophen als Folge unserer technischen Abhängigkeiten oder auch gewaltige Naturereignisse zwingen zur Vorsorge.
Neben den Nützlichkeitsbetrachtungen für den Wert einer Staatsbürgerschaft braucht es aber auch emotionale Bande. Etwas unmodern gewordene Begriffe wie Heimatliebe, Patriotismus, gemeinsame Werte, die einigende Kultur und die gemeinsame Geschichte sind wichtige Bande für ein Staatswesen.
Ein entscheidendes Maß für die Stabilität eines Staatswesens ist sicher die Bereitschaft der einzelnen Staatsbürger, für die Gemeinschaft Leistungen zu erbringen, ohne dafür besonders bezahlt zu werden, oder aber Risken auf sich zu nehmen, die generell nicht adäquat abgegolten werden können. Bereits die großzügige Befreiung vom Wehrdienst durch die Alternative des Zivildienstes ist bezüglich der Vergleichbarkeit der Risken für den Einzelnen problematisch.
Der Gedanke, verpflichtende Leistungen im Bereich der Sicherheit generell abzuschaffen, ist der nächste Schritt zu einer Lockerung der Pflichten des Staatsbürgers gegenüber seiner Gemeinschaft. Diese Änderung berührt entscheidend die Grundsatzfrage des Leistungsaustauschs in einer Gesellschaft. Ist ein Staat stabiler, der den Leistungsausgleich nur monetär bewerkstelligt, oder jener, der von allen Bürgern persönlichen Einsatz verlangt? Gerade in Zeiten knapper werdender Mittel des Staates ist der Übergang von Dienstpflicht zu normalen Arbeitsverhältnissen mit voller Bezahlung einschließlich Risikoaufschlag auch wirtschaftlich kritisch abzuwägen.
Seit 1955 verpflichtet die Republik Österreich jeden jungen männlichen Österreicher zum Wehrdienst, also zur Verteidigung seiner Heimat im Falle einer entsprechenden Bedrohung.Im Gegensatz etwa zur Schweiz wird aber nie klar zwischen der Ausbildungszeit, also dem Präsenzdienst, und dem späteren Einsatz im Ernstfall getrennt. Die Folge ist, dass ein sehr hoher Prozentsatz der Präsenzdiener abrüstet, ohne für die Erfordernisse eines modernen Krieges ausreichend ausgebildet zu sein. Bei strenger Beachtung der Ausbildungsziele wären Ordonanzdienste und Tätigkeiten in Stabskompanien wohl schwerlich zu rechtfertigen. Auch der Grenzeinsatz von Jungmännern nach ihrem Grundwehrdienst ist damit noch kritischer zu beurteilen.
Welchen Einfluss hat der Präsenzdienst auf die Akzeptanz des Bundesheeres in der Bevölkerung? Interessant wäre eine umfassende Studie unter allen Österreichern, die Ihren Präsenzdienst abgeleistet haben, über ihre Erfahrungen und ihre Einstellung zum Bundesheer. Zwingend sollte eine Befragung aller Soldaten zu Beginn und am Ende ihrer Dienstzeit sein (vgl. „Wehrpflicht von unten“, Genius-Brief 11–12/2010).
Wenn der Staat seine jungen Staatsbürger verpflichten darf, ihr Leben für die Heimat einzusetzen, hat dieser Staat auch entscheidende Verpflichtungen. Es ist das die bestmögliche Ausrüstung des Einzelnen und die entsprechende Ausstattung der Armee. Die mageren Budgetmittel und die Vergleiche mit anderen Armeen sprechen eine klare Sprache. Österreich schaut da nicht gut aus. Selbst wenn die Ausstattung vorhanden wäre, müsste die Ausbildung fundamental reformiert werden. Wer die Ereignisse während des Balkankonfliktes verfolgt hat, weiß, wie wichtig eine vollwertige Ausstattung einer Armee ist. Eine andere Vergleichsmöglichkeit bieten die Erfahrungen Israels in den Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn. Österreich aber behandelt Beschaffungsaktivitäten des Bundesheeres nur unter Kostengesichtspunkten und nicht nach dem Aspekt der zu fordernden Gegenleistung des Staates gegenüber seinen Soldaten, die ihre Gesundheit und ihr Leben für die Gemeinschaft einsetzen sollen.
Wer ist in Österreich über Bedrohungsszenarien und aktuelle Sicherheitsrisken wirklich informiert? Wieviel wäre auch allen Staatsbürgern zumutbar? Es ist zu befürchten, dass selbst führende Poltiker nicht ausreichend über die Möglichkeiten kurz-, mittel- und langfristiger Bedrohungsszenarien informiert sind. Es hat in den letzten Jahrzehnten Situationen gegeben, die eindeutig bewiesen, dass unser Land nicht durch seine Neutralität geschützt worden wäre. Die Pläne von Warschaupakt und Nato haben das österreichische Hoheitsgebiet nicht so gesehen, wie es die heimische Politik dargestellt hat. Hat man uns manchmal belogen? Andererseits wäre Österreich ohne Hilfe von außen nicht in der Lage gewesen, das Land erfolgreich über längere Zeit zu verteidigen. Haben das die Verantwortlichen verschwiegen?
Gehen wir davon aus, dass die Neutralität wesentlich dafür war, damit Österreich frei von Besatzungssoldaten werden konnte (1955). Dann war es wahrscheinlich auch unvermeidbar, zur Neutralität zu stehen, solange Österreich an der kritischen Grenze zwischen Ost und West gelegen ist. Mit der fundamentalen Änderung dieser Position seit 1989 wäre es die Pflicht der Politik gewesen, den Staatsbürgern reinen Wein einzuschenken und sich zur Notwendigkeit eines europäischen Bündnisses zu bekennen, statt wider besseres Wissen von Neutralität zu sprechen, wenn es in Wahrheit Trittbrettfahren heißt. Gleiche Lasten in der EU bedeutet auch Verteidigungsaufgaben in dieser Gemeinschaft.
Vorausgesetzt, der Wehrdienst betrifft wirklich alle jungen österreichischen Männer, möglichst ohne Ausnahme, und er ist so organisiert, dass der Großteil nach der Verpflichtung mit dem Gefühl ins weitere Leben geht, etwas Sinnvolles gemeinsam mit anderen für das Gemeinwesen erbracht zu haben, dann wäre das Ergebnis gut für den Zusammenhalt der Jugend und es könnte sogar über die Ausweitung der Pflicht auch auf die jungen Frauen nachgedacht werden.
Auch im Wissen um die Notwendigkeit der Integration junger Menschen, deren Eltern aus ganz anderen Kulturkreisen in unser Land gekommen sind, wäre die Ausbildung beim Heer eine wichtige Möglichkeit und Chance zur Stärkung des Gemeinschaftsbewusstseins junger Österreicher.
Österreich gibt laufend Staatsaufgaben ab und bedenkt nicht, dass es damit auch den Staat abwertet.
Sicherheit ist ein Grundbedürfnis jeder Gemeinschaft von Menschen und muss von der Gemeinschaft als Pflicht ernst genommen werden.
Die Bedrohungssitution in Europa hat sich entscheidend geändert, aber es gibt weiterhin wesentliche Aufgaben in Wahrnehmung sehr realistischer und dramatischer Bedrohungsszenarien.
Österreichs Sicherheitsorganisation und deren militärischer Teil bedürfen einer wesentlichen Anpassung an neue Aufgaben.
Es ist höchst zweifelhaft, ob dem Staatswesen ein guter Dienst erwiesen wird, wenn man die Leistungspflicht möglichst aller jungen Österreicher aus kurzfristigem Gefälligkeitsdenken auflässt, anstatt sie besser und sinnvoller zu gestalten.
Wann wird man in Österreich beginnen, das Volk ernst zu nehmen und ihm die Wahrheit zuzumuten?
Dipl.-Ing. Dr. Helmut Krünes, Wien, war von 1986 bis 1987 freiheitlicher Bundesminister für Landesverteidigung