Von Alexander Vodopivec
Damit kein Missverständnis entsteht: Vodopivec hat hier keinen Aufsatz für die Genius-Lesestücke verfasst. Vielmehr hat er, der ab 1955 Redakteur der „Wochenpresse“ war, im „Verlag für Geschichte und Politik“, Wien, den es ebenso wie die Wochenpresse nicht mehr gibt, unter obigem Titel „ein politisches Panorama“ von Österreich veröffentlicht, das trotz aller seither eingetretenen Veränderungen von atemberaubender Aktualität ist. Obwohl seit dem Erscheinen dieses Buches 1960 gut ein halbes Jahrhundert verstrichen ist und sich die Mehrheitsverhältnisse, Namen und Zahlenangaben geändert haben, sind die geschilderten Strukturen nach wie vor vorhanden. Man vermag nur schwer zu glauben, dass es sich um eine Analyse historischer Zustände handelt, so gegenwartsnahe nimmt sie sich aus. Aber lesen Sie selbst und staunen Sie! Im Folgenden bringen wir als Zitat daraus das Kapitel „Die Oligarchie in der Demokratie“ mit einigen Kürzungen.
Anm. d. Red.
„Vor 50 Jahren hat der deutsche Soziologe Robert Michels das „eherne Gesetz der Oligarchie“ aufgestellt. Danach besteht in jeder Organisation, sobald sie eine bestimmt Größe erreicht hat, die Neigung zur Abkapselung der bürokratischen Führung von der einflusslosen Masse der Mitglieder.
Die Tendenz zur Oligarchisierung läßt sich in Österreich ebenso nachweisen wie in anderen Massendemokratien. Sie wird durch das Proporzsystem begünstigt, da die durch die Koalition der beiden großen Parteien verursachte Ohnmacht der Opposition den Regierenden gestattet, bei der Erledigung der Geschäfte weitgehend nach eigenem Gutdünken zu verfahren und sich nicht streng an die Verfassung zu halten, deren Grundsatz es ist, die Machtkonzentration in den Händen weniger zu verhindern.
Im Laufe der letzten 15 Jahre hat sich ein Führungskreis von etwa 400 Personen herauskristallisiert, der bestimmenden Einfluß auf Politik und Wirtschaft hat. Von ihnen sind rund 200 der ÖVP und 140 der SPÖ zuzurechnen, während der Rest an keine bestimmt Partei gebunden ist, vereinzelt jedoch der FPÖ angehört.
Die Volkspartei mit ihren zahlreichen Gliederungen und heterogenen Interessen braucht eine umfangreichere und differenziertere Führungsgruppe als die SPÖ. Die Vielfalt der Bestrebungen, die wechselnden internen Kräftekombinationen und sonstige Imponderabilien erschweren die Aufstellung einer festen Rangordnung. Je nach den gerade im Vordergrund stehenden Problemen, der Zusammensetzung der verschiedenen Gremien und dem Druck, den die Sozialisten auf ihren Koalitionspartner ausüben, wechselt das Zusammenspiel der maßgebenden Männer und verschiebt sich das Gewicht der einzelnen Persönlichkeiten.
Eine weitreichende Bedeutung kommt derartigen Veränderungen nicht zu. Auch ein Wechsel der obersten Führung, dies haben der Parteitag im Februar und die Regierungskrise im Oktober 1960 gezeigt, würde unter den gegebenen Verhältnissen keine grundlegend neue Situation ergeben.
Bundeskanzler Raab, Parteiobmann Gorbach und die der Partei angehörenden Minister, Staatssekretäre und Landeshauptleute, zu denen noch einige Landesräte und Bürgermeister zu zählen sind, bilden die Prominenz der ÖVP. Weniger im Rampenlicht stehen die rund 33 einflußreichen Spitzenfunktionäre der Partei und ihrer Bünde. In noch geringerem Maße wird die Tätigkeit der etwa 40 Vertreter wirtschaftlicher Interessengruppen, 50 hohen Beamten und 60 führenden Männer der Wirtschaft von der Öffentlichkeit bemerkt.
In diesem Kreis sind, einschließlich der Regierungsmitglieder, höchstens 20 Personen, das sind zehn Prozent, Parlamentarier. Drei Viertel der ÖVP-Nationalräte haben keinen nennenswerten Einfluß auf die Gestaltung der Politik. Diese Verhältniszahlen zeigen deutlich, wie sehr sich die Macht von ihrem verfassungsmäßigen Zentrum zu außerparlamentarischen Organisationen verlagert hat.
Bei den Sozialisten verfügt ein größerer Teil der Spitzenkräfte über ein Parlamentsmandat. 50 maßgebliche Funktionäre, darunter auch die Regierungsmitglieder, haben in den zentralen Gremien, der Parteiexekutive, dem Parteivorstand und der Parteivertretung, ihren Sitz. Daneben wirken etwa 15 Parteisekretäre, 20 Funktionäre und Beamte der Arbeiterkammern und Gewerkschaften sowie ein15 Mann starker Brain Trust, in dem neben Abgeordneten des Nationalrats auch einige Juristen und Publizisten vertreten sind, stark auf den Kurs der Partei ein. Die der SPÖ nahe stehenden ca. 40 hohen Beamten und Manager sind trotz ihrer geringeren Zahl kaum weniger einflussreich als ihre Gegenspieler bei der ÖVP.
Ebenfalls vorwiegend den Kreisen der Bürokratie und der Wirtschaft gehören jene führenden Persönlichkeiten an, die zwar keine festen Bindungen an eine der beiden Koalitionsparteien haben, der Oligarchie aber doch zuzuzählen sind bzw. wegen ihrer Unersetzlichkeit von dieser akzeptiert werden müssen. Zu ihnen muß man auch jene Mitglieder der höchsten Gerichtshöfe rechnen, die als Präsidenten, Senatsvorsitzende und ständige Referenten Einfluß auf die laufende Judikatur ausüben.
Im ganzen stellen also die Beamten und Manager das zahlenmäßig stärkste Element der Führungsschicht dar. Soweit es sich bei ihnen um hochqualifizierte Spezialisten handelt, kommt ihrer politischen Einstellung nur untergeordnete Bedeutung zu. Typusmäßig unterscheiden sie sich kaum von den Interessenvertretern und Berufspolitikern. Die Oligarchie ist ein gesellschaftlich ziemlich homogener Kreis. Beobachtet man ihn bei Empfängen, Cocktails und anderen offiziellen Anlässen, so hat man keineswegs den Eindruck, dass sich hier die Repräsentanten zweier feindlicher Lager gegenüberstehen. Sie mischen sich zwanglos wie Bekannte, die ähnliche Einkommen, gleiches Prestige, dieselben Autos und im Grunde genommen nicht allzu entgegengesetzte Interessen haben.
Das Vorhandensein eines geschlossenen Führungsringes hat manche Vorteile. Die herrschende Klasse der Zweiten Republik kann auf beachtliche Leistungen hinweisen. Ihre Erfolge wurden in allgemeinen und freien Wahlen durch ein überwältigendes Votum zugunsten der Koalitionsparteien sanktioniert.
Trotzdem breitet sich Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen aus. Dieses wird vor allem durch die Einsicht hervorgerufen, dass die Demokratie in Österreich noch immer auf recht schwachen Beinen steht. Einer kleinen Spitzengruppe und einer dünnen mittleren Funktionärsschicht steht eine politisch gleichgültige, apathische Masse gegenüber, die selbst dort, wo sie organisiert ist und Mitgliedsbeiträge bezahlt, nur schwer für eine aktive Beteiligung am politischen Leben zu gewinnen ist.
Eine vom „Österreichischen Meinungs- und Marktforschungsinstitut“ im Mai 1959 durchgeführte Untersuchung ergab, dass sich 45 Prozent der Erwachsenen gar nicht oder nur minimal für Politik interessieren. 26 Prozent bekunden eine bescheidene Anteilnahme, 27 Prozent räumen ihr neben anderem größere Wichtigkeit ein und nur 2 Prozent bezeichnen sie als ihr hauptsächliches Interessengebiet … (Zitat gekürzt. Anm. d. Red.)
Die Geringschätzung des Parlaments und der Abgeordneten trägt viel zur Abschnürung der Oligarchie bei. Es wäre von größter Bedeutung, wenn der Kreis der vielfach etwas farblosen Manager und Beamten durch originelle und starke Persönlichkeiten, die in weiten Kreisen Ansehen genießen, ergänzt würde. Presse und Rundfunk könnten durch lebendige, ungeschminkte Berichterstattung viel dazu beitragen, die Kluft zwischen Regierenden und Regierten zu schließen.
Die Parteien sollten weniger an den Wahlkampf und mehr an die Aufgabe denken, das öffentliche Leben demokratisch zu gestalten. Praktisch heißt das nach den Worten des deutschen Soziologen Leibholz, „alles tun, um zu vermeiden, daß die Parteibürokratie mit Hilfe der modernen Organisationstechnik ihren Willen dem Willen der Parteibürger entgegensetzt und ihn den letzteren und schließlich dem ganzen Volk auferlegt.“ (Ende des Gesamtzitats)
Obwohl seit dieser Schilderung rund 50 Jahre ins Land gegangen sind, mutet vieles davon durchaus aktuell an. Es hat inzwischen zweimal eine kleine Koalition gegeben, doch befinden wir uns wieder in einer großen Koalition und da gleichen die neuen Bilder wiederum den alten! Neu ist die Stärke und Buntheit der agierenden Oppositionsparteien, doch prallen sie immer wieder an der Mauer der großkoalitionären Oligarchie ab. Nicht zu vergessen das Entstehen der Europäischen Union, die jedoch ihrerseits die Tendenz zur Herausbildung von Oligarchien nachhaltig verstärkt.
Medial traten das Fernsehen und das Internet neu auf den Plan. Insoweit ist die Forderung von Vodopivec nach lebendigerer Berichterstattung technisch umgesetzt worden; inhaltlich bleibt noch viel zu wünschen übrig. Erstaunlich ist die Konstanz des grosso modo sehr geringen Interesses für Politik. Auch neuere Untersuchungen bestätigen die von Vodopivec angeführten Erkenntnisse der Meinungsforschung. Anders hingegen ist die emotionale Einstellung der Bevölkerung. Spricht Vodopivec noch von einer „apathischen Masse“, so artikuliert sich heute die Unzufriedenheit mit „der Politik“ doch recht breit. Professor A. Pelinka z. B. meint, dass die so genannten Wut-Bürger bereits rund 30 Prozent der relevanten Bevölkerung ausmachen. (Mit diesem neueren Phänomen setzt sich in diesem Genius-Brief das Lesestück Nr. 1 auseinander)
Die Dichte der Diskussionen und ihre Intensität haben deutlich zugenommen. Umso bestürzender ist, dass die geschilderten Grundstrukturen der politischen Elite Österreichs im Zeichen der wieder belebten großen Koalition wie von anno Schnee anmuten. Das gibt doch sehr zu denken.
G. S.