Von Miltiades
Nach einer mehr als zwei Jahre anhaltenden Diskussion soll nunmehr die Frage Wehrpflicht vs. Berufsheer mittels einer Volksbefragung zur Entscheidung gebracht werden. Da die Politiker sich nicht einigen konnten, wird nunmehr der Souverän – das Volk – befragt. Die Österreicher werden aber nicht entscheiden, sondern nur ihre Meinung kundtun dürfen. Damit ist ein Scheitern des Entscheidungsfindungsprozesses nicht ganz auszuschließen. Eine zu geringe Beteiligung würde die Aussagekraft der Befragung deutlich herabsetzen. Die unterlegene Seite könnte dann argumentieren, dass sie nicht guten Gewissens einem Minderheitenvotum folgen könne. Am Ende könnten vorgezogene Nationalratswahlen im Frühjahr stehen, da auch in anderen Themenbereichen keine Einigkeit zwischen den Regierungsparteien besteht. Es geht SPÖ und ÖVP bei der Befragung nicht um eine sicherheitspolitische Weichenstellung, sondern um politische Profilierung.
Wieder einmal ist das Bundesheer Gegenstand einer wahltaktischen Auseinandersetzung. Anders kann die zeitliche Nähe der Befragung zur Landtagswahl in Niederösterreich im März 2013 und zur Nationalratswahl im Herbst 2013 nicht bewertet werden. 1970 postulierte Bruno Kreisky „Sechs Monate sind genug!“. 1985 unterstützte die ÖVP das Volksbegehren gegen den Ankauf der Abfangjäger Typ Draken. 2006 versprach die SPÖ, den Ankauf der Eurofighter rückgängig zu machen. Um die Anliegen des Bundesheeres oder der Landesverteidigung ist es bei keiner dieser Kampagnen gegangen und geht es auch jetzt nicht. Landeshauptmann Erwin Pröll, der die Volksbefragung innerhalb der ÖVP durchsetzte, ist es in erster Linie um den Katastrophenschutz zu tun – dies ist zwar eine der Aufgaben des Bundesheeres, aber nicht die primäre, wenn auch in den Augen der Bevölkerung sicher die wesentlichste. Prölls Sorge ist wohl berechtigt, aber natürlich vor dem Hintergrund einer Landtagswahl zu sehen, bei der es um die absolute Mehrheit in Niederösterreich, der wichtigsten Bastion der Volkspartei, geht. Andere „haben schlicht ihre Meinung geändert: Günter Platter etwa. Als Verteidigungsminister wollte er 2003 ein Berufsheer in zehn Jahren nicht ausschließen. Jetzt, als Tiroler Landeshauptmann, ist er Wehrpflicht-Befürworter.“ So „Die Presse“ am 16. September 2012. Die ÖVP hofft auf einen Schub für ihre Wahlbewegung durch die kurz davor stattfindende Volksbefragung, am besten einen Turboschub durch eine Zustimmung zur Wehrpflicht.
Es gibt tatsächlich gute Gründe anzunehmen, dass die Österreicher mehrheitlich für die Beibehaltung der Wehrpflicht stimmen werden. In ländlichen Regionen ist die Popularität militärischer Katastrophenhilfe groß, vielfach auch die Wehrbereitschaft höher als in großen Städten. Ob das ausreichend sein wird, ist die Frage. Die ersten Meinungsumfragen zeigen kein deutliches Bild. Viel wird vom Mobilisierungsgrad abhängen, im Winter sind natürlich auch jahreszeitlich bedingt Bundesheereinsätze möglich, die kurz vor der Befragung die Stimmung massiv beeinflussen könnten. In Rechnung zu stellen ist auch, dass sich die Haltung der jeweiligen Parteianhänger nicht unbedingt mit der jeweils aktuellen Parteilinie deckt. In der SPÖ ist der Gedanke der Wehrpflicht traditionell fest verankert. Die Erinnerung an das Bürgerkriegsjahr 1934 und den damaligen Einsatz des Berufs-Bundesheeres gegen die aufständischen Arbeiter ist bei vielen Sozialdemokraten wohl noch nicht ganz verschwunden. Ein Volksheer, das auf breiter Basis die Landesverteidigung sichert, gilt auch unter linken Pazifisten als kleineres Übel, weil Wehrpflichtige nicht so einfach gegen die eigene Bevölkerung oder in einen internationalen Einsatz geschickt werden könnten wie Berufssoldaten, die eine freiwillige Verpflichtung eingegangen sind und vom Sold leben – somit „Söldner“ sind.
Befürworter des Berufsheeres sind traditionell eher in der ÖVP und in der FPÖ zu finden. Auslöser für das Abrücken von der Wehrpflicht war seinerzeit das Ende des Kalten Krieges. Die Auflösung alter Konfrontationsmuster führte dazu, dass eine Umorientierung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik breiter diskutiert wurde. In den 1990er-Jahren war ein neuer sicherheitspolitischer Weg durchaus im Bereich des Möglichen. Ein großes militärisches Aufgebot schien angesichts des Wegfalls des östlichen Militärbündnisses Warschauer Vertrag nicht mehr nötig, ein Berufsheer, verbunden mit der Zugehörigkeit zur NATO oder zu einem europäischen Verteidigungsbündnis, als ausreichend.
Bereits 1991 schlug Friedhelm Frischenschlager, damals noch in der FPÖ und von 1983 bis 1986 Verteidigungsminister in der SPÖ-FPÖ-Regierung, eine Volksabstimmung über die Wehrpflicht vor. Jörg Haider plädierte ebenfalls für ein Berufsheer. Positive Aussagen zur Abschaffung der Wehrpflicht kamen aber aus allen Parteien. Helmut Zilk, Erhard Busek, Caspar Einem oder Andreas Khol tätigten entsprechende Aussagen. 1997 legte sich die ÖVP auf eine NATO-Mitgliedschaft Österreichs fest. Herbert Scheibner, damals Klubobmann der FPÖ, forderte 1999 ein „professionelles Freiwilligenheer“ mit einer Freiwilligenmiliz, allerdings in einer Stärke von 30.000 bis 40.000 Berufssoldaten, während derzeit von 15.000 Berufssoldaten die Rede ist (plus 2.000 freiwilligen Grundwehrdienern). In ihrem jüngsten Parteiprogramm von 2011 bekennt sich die FPÖ „zur allgemeinen Dienstpflicht aller männlichen Staatsbürger in Form des Wehrdienstes oder eines Wehrersatzdienstes …“. Der seinerzeitige freiheitliche Sektionsschef im Ministerium für Landesverteidigug Erich Reiter, jetzt Leiter des Internationalen Institutes für Liberale Politik, Wien, tritt hingegen für ein Berufsheer ein.
Die schwarz-blaue Koalition plante laut Aussage des in der Koalition zum Verteidigungsminister (2003–2006) avancierten Herbert Scheibner die Wehrpflicht „mittel- bis langfristig“ zu sistieren. In der SPÖ gab es übrigens auch schon unter Viktor Klima eine Bereitschaft zum Berufsheer.
2001 haben sich ÖVP und FPÖ auf eine Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin geeinigt, in der die allgemeine Wehrpflicht verankert wurde, Österreich allerdings als „allianzfrei“ beschrieben wurde. Beide Parteien wollten den Nutzen einer NATO-Mitgliedschaft laufend beurteilen und die Beitrittsoption im Auge behalten. Als der politische Wind international rauer wurde und die USA gemeinsam mit anderen NATO-Staaten Kriege im Irak und in Afghanistan begannen, schwächte sich der Reformeifer in Österreich deutlich ab. Die NATO-Option verschwand völlig aus dem Forderungskatalog der österreichischen Politiker, die Neutralität, obwohl so ausgehöhlt, dass sie nur mehr eine rechtliche Hülle ohne Inhalt bildet, steht heute nicht mehr zur Debatte.
2011 beschloss die Bundesregierung eine neue Sicherheitsstrategie, da das Papier von 2001 aus Sicht der SPÖ überholt war. Ihr waren vor allem die Aussagen zur NATO-Mitgliedschaft und Neutralität ein Dorn im Auge. Den Nationalrat hat die Strategie bis jetzt nicht passiert. Das heißt, dass im Grunde das Pferd von hinten aufgezäumt wird: Ohne Sicherheitsstrategie wird über die Wehrform entschieden. Sinnvoll wäre es umgekehrt: zuerst festzulegen, was das Bundesheer können soll, und dann erst, wie die nötigen Soldaten aufgebracht werden.
Im Jänner wird aber nicht nur die Haltung zur Wehrpflicht abgefragt werden, sondern auch die zum Zivildienst. Vermutlich wird der Zivildienst ein entscheidender Faktor für den Ausgang der Befragung sein. Zwei völlig unterschiedliche Themen werden hier vermengt, sachlich hat die militärische Landesverteidigung mit dem Rettungs-, Kranken- und Pflegewesen überhaupt nichts zu tun. Politisch hängen beide natürlich zusammen, weil die Verweigerung des Wehrdienstes der Bundesregierung erlaubt, junge Männer zur Sozialarbeit heranzuziehen, ohne die das Sozialsystem nicht mehr funktionieren würde.
Die FPÖ streicht diesen Punkt besonders hervor (und bringt sogar das Jahr 1934 in die Diskussion ein). Es ist allerdings fragwürdig, einen Dienst an der Öffentlichkeit, der rechtlich als solcher nicht durchsetzbar ist, weil die Menschenrechtskonvention Zwangsarbeit verbietet, über die Hintertür des Wehrersatzdienstes als de facto Alternativdienst zu etablieren. In der Tat hat das Sozialsystem auch vor Einführung des Zivildienstes 1975 funktioniert, allerdings war der Bedarf bei der Pflege alter Menschen bis zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit nicht im heutigen Umfang gegeben. Es ist aber wenig zweckmäßig, die militärische Landesverteidigung unter dem Aspekt der Erhaltung des Sozialsystems zu diskutieren, weil Letzteres keinen Erkenntnisgewinn über Erstere bringt.
Selbst wenn ein Berufsheer als die verteidigungspolitisch sinnvollere Lösung erschiene, wäre sie unter den heutigen Bedingungen nur schwer umzusetzen, weil riesige Kosten auflaufen würden – so rechnet zumindest Generalstabschef Edmund Entacher im Gegensatz zu Verteidigungsminister Norbert Darabos – oder die Leistungen abnehmen würden – eine politische Zwickmühle, weil beides politisch kaum vertretbar ist. Nach wie vor offen ist auch die Frage der Anwerbung des notwendigen Personals in ausreichendem Umfang. Dieser Punkt ist entscheidend für das Bundesheer. Es ist völlig unklar, ob sich genügend qualifizierte Freiwillige für ein Berufsheer finden würden. Deutschland taugt hier nur bedingt als Muster, weil die Zeit seit der Aussetzung der Wehrpflicht im März 2011 zu kurz war, um eine klare Aussage über die Nachhaltigkeit erfolgreicher Rekrutierung treffen zu können. Immerhin sind einige Schwierigkeiten bei der Rekrutierung wirklich geeigneter Männer aufgetreten.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Volksbefragung ein politisches Manöver ist, das sicherheits- und verteidigungspolitisch keine wirklichen Antworten gibt. Das gegenwärtige System stellt die Landesverteidigung (und das Sozialsystem) in einem bestimmten Umfang sicher. Die Abschaffung der Wehrpflicht würde eine völlige Neuorientierung mit sich bringen, wobei die erforderlichen finanziellen Mittel Reduzierungen bei den Leistungen des Bundesheeres und der sozialen Dienste etc. nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen. Unter günstigen Bedingungen, sprich: ausreichend Geld und Personal, wäre vermutlich die Effizienz eines Berufsheeres höher. Verteidigungspolitisch könnte sich ohne Wehrpflicht der Druck in Richtung Verteidigung im Verbund (NATO oder EU) verstärken, wodurch allerdings auch die österreichische Neutralität einer erneuten Überprüfung unterzogen werden müsste.