Von Wolfgang Schimank
Der italienische Journalist und Sozialkritiker Luigi Barzini brachte schon 1956 mit seinem Buch „Hirn wird Mangelware“ und der Aussage „In Italien befindet sich das Analphabetentum im Vormarsch!“ die Öffentlichkeit in hellen Aufruhr. Er schockierte auch mit der Tatsache, dass 1,5 Millionen Kinder trotz Schulpflicht von ihren Eltern am Schulbesuch gehindert wurden und 1,7 Millionen Kinder maximal drei Jahre zur Schule gingen. 9,4% der Schulpflichtigen gingen in den Provinzen südlich von Rom nicht zur Schule. Die Turiner Zeitung „La Stampa“ bezeichnete damals das Analphabetentum als eine „schreckliche Landplage Italiens“ und als eine „alte Erbkrankheit“, die Italien seit seiner Staatsgründung von Generation zu Generation weitergibt.[1]
Die Politiker hatten sich darauf eingestellt und kämpften bei Wahlen erbittert darum, dass ihre Partei auf der Wahlliste entweder ganz oben oder ganz unten steht, damit der Analphabet sein Kreuz an der „richtigen“ Stelle macht. Dieser Bevölkerungsteil hatte (und hat noch heute) den entscheidenden Anteil an Sieg oder Niederlage einer Partei.
Einen großen Schritt in Richtung „Bekämpfung des Analphabetismus“ war die Schulreform von 1962. Seitdem gibt es die achtjährige Schulpflicht. Allerdings erreichte sie nicht die zwei Millionen Menschen, die älter als 45 Jahre und Analphabeten waren.[2]
Am 14. November 2005 gab es erneut ein Aufsehen, als die Zeitung „La Repubblica“ unter der Überschrift „Quasi sei milioni di analfabeti e il 66 % degli italiani é a rischio“ den Linguistik-Professor Tullio De Mauro zitierte. Nach seinen Worten können 20 bis 25 % der Schulabgänger, die zwar den Hauptschulabschluss erworben haben, nicht lesen und schreiben. Wenn man die Menschengruppen, die keinen oder einen mittleren Schulabschluss haben, addiert, dann beträfe es 36 Millionen Italiener, also rund zwei Drittel der gesamten Bevölkerung, die über keine oder eine ungenügende Bildung verfügen. Italien befände sich somit auf Platz 28 der OECD-Bildungsrangliste, vor Portugal und Mexiko …[3]
Eine unwissende Bevölkerung ist eine geeignete Knetmasse für die Mafia und die Politiker. Sie ist gut manipulierbar. Sie fragt nicht, wie Dinge wirklich sind. Es gilt halt das Gesetz des Stärkeren, basta. Allerdings ist die Unwissenheit einer breiten Bevölkerungsschicht ein zweischneidiges Schwert: Diese Menschen können blindlings Demagogen folgen, die ihre jetzige Situation als gottgewollt betrachten oder, wie Luigi Barzini befürchtet: „Unvermeidlich entsteht in dem Analphabeten ein Gefühl des Ressentiments und der Rebellion gegen eine Gesellschaft, in der er nicht mehr die alten patriarchalischen Leitideen für das Leben besitzt und in der er aber auch nicht die neuen lernen kann. Schnell wird er zur Beute uferloser politischer Hoffnungen, und bald ist er bereit, sich in Massen gegen die Staatsautorität zu stellen und Feuer in die Gemeindearchive zu werfen.“[1]
Diese Situation erklärt vielleicht die vielen für uns unverständlichen Vorgänge in der politischen Klasse Italiens. Die Spitzenpolitiker Italiens stehen vor der Gretchenfrage: Akzeptieren sie ein unwissendes Wahlvolk mit all seinen Konsequenzen oder wollen sie die Zukunft Italiens sichern, was hohe Ausgaben für Bildung und Wissenschaft bedeutet. Es scheint, dass sich die Politiker für die erste Variante entschieden haben.
Die „Casta“ denkt weniger an die Zukunft Italiens und beschränkt sich auf das Zanken und das Sich-selbst-Bedienen. „In keinem anderen Land engagieren sich die Volksvertreter so sehr für ihr eigenes Wohlergehen und so wenig für das Wohl des Volkes,“ schreibt der „Stern“ 2011 in seiner Novemberausgabe. Rom setzt eben andere Prioritäten. Die eine wäre zum Beispiel die kostspielige Restaurierung der faschistischen Denkmäler in Südtirol.
Silvius Berlusconi ist zweifellos eine der schillerndsten Persönlichkeiten Italiens. Er steht wie kein anderer für die perfekte Verquickung von Politik und Medien. In seiner Regierungszeit wurden die Privatisierung der Medien und die Einschränkung der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI vorangetrieben. Seit 2001 wurde die RAI von Regierungskritikern gesäubert. Aus Protest gegen den Einfluss der Regierung Berlusconi auf die Medien trat die RAI-Präsidentin Lucia Annunziata zurück. „Im Jahre 2004 stufte der Freedom of the Press 2004 Global Survey, ein jährlicher Bericht, der von der amerikanischen Organisation Freedom House veröffentlicht wird, die Pressefreiheit in Italien von Free auf Partly Free zurück.“[4], [5] Seitdem ist das Niveau der Sendungen gesunken. Der inzwischen sogar verurteilte Berlusconi ist nach wie vor ein mächtiger Mann und geistert in der politischen Szene immer wieder herum.
Viele Italiener kennen kaum die Geschichte ihres Landes, geschweige denn, dass es nationale Minderheiten gibt und wie sie in diesen Staat gelangt sind. Wenn Michaela Biancofiore sich über Südtirol auslässt, dann hat das das Niveau seichter Unterhaltungssendungen. Entweder fehlen ihr fundamentale Geschichtskenntnisse oder sie zielt mit diesen Provokationen bewusst auf Teile des italienischen Staatsvolkes, die aus den verschiedensten Gründen Analphabeten oder Fast-Analphabeten sind, um sie gegen die Südtiroler und ihre Autonomie aufzuhetzen.
Zu den Feierlichkeiten des 150. Jahrestages der Gründung Italiens verweigerte der damalige Landeshauptmann Luis Durnwalder die Teilnahme. Die nationalistischen Kräfte entfachten sofort eine mediale Hetzkampagne. Es schwappte eine Flut der Empörung aus ganz Italien über Südtirol. Von „undankbaren Südtirolern“ war die Rede. Es wurde der Geist des Risorgimento beschworen. Aber was hat der Risorgimento mit der Annexion Südtirols zu tun?
Berlusconi stellte sich medial immer als eine Alternative zur alten Politikerklasse dar, die als „ein Arbeiter als Ministerpräsident“ und „Vorstandsvorsitzender des Betriebes Italien“ zum Wohle seines Volkes diene. Die Leute bräuchten sich nicht mehr um Politik zu kümmern. In Wirklichkeit steuerte er Italien fast in den Abgrund. In einem Brief vom 5. August 2011 forderten der scheidende EZB-Chef Jean Claude Trichet und der designierte Chef der EZB Mario Draghi Berlusconi auf, er möge die Staatsfinanzen in Ordnung bringen und eine andere Wirtschaftspolitik betreiben. Erst die Veröffentlichung dieses „Brandbriefes“ durch die Zeitung „Corriere della Sera“ am 29. September 2011 führte den Menschen den Ernst der Lage vor Augen.[4] Damit wurde das Ende der Ära Berlusconi eingeläutet. Aber auch die nachfolgenden Ministerpräsidenten vermochten keine Kehrtwende in der Staatsverschuldung herbeizuführen.
Unter Berlusconi begann die Aushöhlung der Autonomie Südtirols, die ihre Fortsetzung unter dem technokratischen Ministerpräsidenten Mario Monti fand. Wie es weiter gehen wird, zeigte sich bald.
Zur Sendung „Porta a Porta“ am 14. Jänner 2014 auf RAI 1 wurden die führenden Politiker Siziliens und Südtirols eingeladen und befragt. Der Moderator Bruno Vespa wurde zum Chefankläger wie bei einem Kriegstribunal. Man hatte den Eindruck, als wäre nicht nur der neue Landeshauptmann Kompatscher, sondern die ganze Autonomie Südtirols auf der Anklagebank. Es wurden Unwahrheiten behauptet, Kompatscher mehrfach unterbrochen und schließlich das Mikrophon abgedreht.
Das Gehalt manch eines Südtiroler Politikers ist in der Tat sehr hoch und kaum erklärbar. Wegen unverschämt hoher Politikerpensionen bzw. wegen der auf diese getätigten Vorauszahlungen ist sogar die SVP derzeit in ziemliche Turbulenzen geraten. Es dürfte zur Ablösung der Parteiführung kommen. Allerdings sind die Gehälter auch bei den italienischen Parlamentariern und Senatoren Weltklasse: Das Parlament in Rom gibt 2,4-mal mehr Geld aus als das britische Unterhaus und der Quirinalspalast kostet doppelt so viel wie das Elysée und ist 8-mal so teuer wie das deutsche Bundespräsidialamt![6], [7]
Der Moderator der erwähnten Sendung bediente sich schlichtweg jener Vorurteile gegenüber den Südtirolern, die besonders in dem unwissenden Teil des italienischen Staatsvolkes herumschwirren. Bruno Vespa, der für seine Arbeit einen mit 3,6 Millionen Euro (!) dotierten Dreijahresvertrag unterzeichnete und dabei Kompatscher, rein finanziell, als ein „armes Würstchen“ zurückließ, bastelte am Bild vom „undankbaren“ Südtiroler, der obendrein ein Schmarotzer sei. In Südtirol stieß diese Art und Weise der „Befragung“ auf einhellige Ablehnung. Bedenklich daran ist, dass es dazu keine Gegendarstellung gibt und die Behauptungen somit als eine offizielle Tatsache im Raum stehen bleiben.
Sicherlich wäre die Diskussion anders verlaufen, wenn Arno Kompatscher unterstrichen hätte, dass Südtirol erstens nicht freiwillig zu Italien gehört und zweitens, dass Südtirol immer schuldenfrei gearbeitet hat.
Es ist und bleibt ein offenes Geheimnis, dass alle italienischen Parteien nationalistisch sind und die Autonomie ablehnen. Das Verhalten von Staatspräsident Giorgio Napolitano erinnert schon ein bisschen an das Verhalten eines politischen Chamäleons. Zu Mussolinis Zeiten war er in der faschistischen Studentenorganisation GUF und nach dem Umsturz in der Kommunistischen Partei Italiens PCI. Als Staatspräsident setzt er sich in der Öffentlichkeit für den Erhalt der Autonomie ein, aber in seinem Palast unterschreibt er Gesetze, die genau das Gegenteil davon bewirken.
Wenn es um den Abbau der Autonomie Südtirols geht, dann versteckte sich Mario Monti und seine Partei hinter dem Vorwand der EU-Sparvorgaben. Es spricht schon Bände, wenn der Partito Democratico (PD), Koalitionspartner der in Südtirol regierenden Südtiroler Volkspartei (SVP), sich zu diesem unglaublichen Vorgang ausschweigt.
Letztlich stehen alle italienischen Parteien nur „Gewehr bei Fuß“ und warten auf den medial erzeugten Volkszorn, um dem „Wunsch“ des Volkes gern nach zu kommen und der ungeliebten Autonomie den Garaus zu machen.
In Südtirol ist die Tageszeitung „Dolomiten“ dominierend. Die täglich verkaufte Auflage beträgt 56.600 Stück. Sie ist konservativ und steht der SVP sehr nahe. Manche Kritiker spötteln: „Jede größere Partei hält sich eine Zeitung. In Südtirol ist es anders herum!“ – „Diese Ausnahmestellung bringt dem Medium aufgrund seiner betont an der Südtiroler Volkspartei und der Diözese Bozen-Brixen – gleichzeitig Miteigentümerin des Verlagshauses Athesia – orientierten und abweichenden Meinungen mitunter ausgrenzenden Linie häufig Kritik ein.“[8]
Die „Neue Südtiroler Tageszeitung“, mit einer Auflage von 15.000 Exemplaren, führt eher ein bescheidenes Dasein. Sie ist mehr links orientiert und versucht, gelegentlich durch etwas fragwürdige Artikel die Auflage zu steigern. Beispielsweise „wusste“ diese Zeitung bereits vor der Auszählung der Stimmen, wie das Ergebnis der von der Süd-Tiroler Freiheit durchgeführten Befragung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes aussieht. Viele Südtiroler hoffen zwar, dass diese Zeitung ein Korrektiv zu den allmächtigen „Dolomiten“ ist, falls diese wieder einmal einen Sachverhalt zu einseitig darstellt. Doch diese Hoffnung wird leider oft nicht erfüllt.
Die in Südtirol lebenden Ladiner haben die Wochenzeitung „La Usc di Ladins“ (Die Stimme der Ladiner), die naturgemäß in einer geringen Auflage (5.000 Stück) erscheint. Sie äußert sich auch sehr gesellschaftskritisch, was der regierenden SVP mitunter nicht gefällt. Die Auszeichnung mit dem Prof. Claus Gatterer-Preis nahm ein hoher SVP-Funktionär zum Anlass, die Zeitung zu beschimpfen und ihr mit Geldentzug zu drohen.
Die italienische Volksgruppe in Südtirol liest entweder die nationalistische Tageszeitung „Alto Adige“, die als „Verteidiger der Italianität Südtirols“[9] auftritt, oder überregionale Zeitungen. Die verkaufte Auflage des Alto Adige beträgt 43.000 Stück.
Das Lebensgefühl der patriotisch gesinnten Südtiroler wird von keiner Tageszeitung widergespiegelt. Das dürfte die Mehrheit der Südtiroler betreffen. Warum gibt es in Südtirol keine seriöse Tageszeitung, die die breite politische Mitte und die tirolerisch-patriotisch gesinnten Menschen anspricht? Das Fehlen eines solchen Mediums führt letztlich dazu, dass die Welt von Südtirol ein falsches Bild hat.
[1] „Der Spiegel“, Ausgabe 23/1956, „Die schreckliche Landplage“
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43062336.html
[2] „Berliner Zeitung“, 29. November 2000, Thomas Götz, „Italien und seine Analphabeten“
http://www.berliner-zeitung.de/archiv/erregte-debatten-ueber-das-niedrige-bildungsniveau-italien-…
[3] Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V., „Sechs Millionen Analphabeten in Italien“
http://www.alphabetisierung.de/presse/presseschau/sechs-millionen-analphabeten-in-italien.html
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Silvio_Berlusconi
[5] „Zeit“, 17. Februar 2011, Roberto Saviano, „Herrscht Berlusconi durch seine Sender?“
http://www.zeit.de/2011/07/Saviano-TV/seite-1
[6] „Neue Zürcher Zeitung“, 9. November 2013, „Italiens verschwenderische Politiker“
[7] „stern“, Ausgabe 47, 17. November 2011, Seite 56–64, Claus Lutterbeck: „Sich zanken … und bedienen“
http://www.nzz.ch/aktuell/international/reportagen-und-analysen/ital…
[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Dolomiten_(Zeitung)
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Alto_Adige_(Zeitung)
[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Siegesdenkmal_(Bozen). Der Anteil von Analphabeten in der Bevölkerung Italiens um 1900 war 56 %, im südlichen Tirol hingegen nur etwa 5 %. „Von hier aus bildeten wir die Übrigen durch Sprache, Gesetze und Künste.“ So heißt die Inschrift am Siegesdenkmal in Bozen.
Zur politischen Lage innerhalb Südtirols nach den Landtagswahlen vom 27. Oktober 2013 siehe die Abhandlung von Gerd Andreaus „Eine Zäsur in Südtirol’“, Lesestück Nr. 3 im Genius-Brief November-Dezember 2013.