Von Karl Sumereder
Grundgedanken des philosophischen Zweiges der modernen Hirnforschung, des Konstruktivismus, sind auf Annahmen aufgebaute Zweckschlüsse beziehungsweise, dass wir prinzipiell unfähig sind, die Welt so zu erkennen, wie sie wirklich ist.
Anhand von Sinnesreizen und dem Abgleichen mit Erfahrungen werden denkerisch Muster gebildet. Die auf solche Weise konstruierte Realität hat aber dann einen sehr persönlichen Charakter. Wir bilden und erfassen Konstruktionen, die sich unser individuelles Gehirn als eine Wirklichkeit selbst bildet. Wir können uns nur bestimmte Vorstellungen bilden, wie die Welt womöglich beschaffen sei.
Bereits der griechische Philosoph Platon (428/427–348/347 v. u. Z.) hat mit seinem berühmten Höhlengleichnis dargelegt, dass wir zur Erkenntnis der Dinge nicht wirklich fähig sind, weil wir diese geistig nur schattenhaft wahrnehmen und auch fehldeuten.
Viel später hat beispielsweise auch der Philosoph Friedrich August Nietzsche (1844–1900) darauf hingewiesen, dass unsere Sinne keinen wirklichen Eindruck dessen vermitteln, was um uns herum alles geschieht. Was wir wahrnehmen, ist als eine Übersetzung von Nervenreizen in Bilder zu verstehen. Dies ergebe aber keinen Aufschluss über die Dinge selbst.
Die Verhältnisse von Denken, empirischer und religiöser Erfahrung, von Wahrnehmung und Wirklichkeit, stellten schon seit der antiken Naturphilosophie des 6. und 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung ein Grundproblem dar. Diese Fragen bildeten auch für die Geisteswissenschaften, die Metaphysik und Biologie eine Herausforderung.
Führende Philosophen der Aufklärung wie John Locke (1632–1704), David Hume (1711–1776) und Immanuel Kant (1724–1804) bestritten die Zuverlässigkeit anderer Erfahrungen als die der Sinneswahrnehmungen zur Wahrheitsfindung. Solche Feststellungen, vor allem jene von Kant, führten zur Schlussfolgerung, dass die Welt der Erscheinungen eine Schöpfung menschlichen Geistes ist. Die Dinge an sich, die Wirklichkeit an sich, entziehen sich unserer tiefen Erkenntnis.
Wie die Vertreter eines radikalen Konstruktivismus behaupten, beruhen alle Wahrnehmungen und Erkenntnisse bloß auf mentalen Konstruktionen. Physiologische Prozesse der Sinne und des Gehirns in Verbindung mit kulturell erworbenen Denkschemata erzeugen das Bild der Wirklichkeit. Der radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, dass alles Wissen, wie man es auch definieren mag, nur in unseren Köpfen existiert; beruht auf der Annahme, dass ein denkendes Subjekt sein oder ihr Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann.
Der Philologe und Philosoph Paul Watzlawick (1921–2007) geht davon aus, dass es eine Wirklichkeit unabhängig von uns als Erkennende, eine Realität an sich überhaupt nicht gibt, beziehungsweise zumindest nicht erkannt werden kann. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist gemäß Watzlawick unsere Erfindung. Wir alle konstruieren ein individuelles und subjektives Bild unserer Umwelt. Wir nehmen nur eine beobachtungsabhängige, eine individuell unterschiedliche Wirklichkeit wahr. Unsere Wahrnehmungsbedingungen machen es unter keinen Umständen möglich, die Welt, die wirkliche Wirklichkeit insgesamt oder teilweise außerhalb unserer physischen und psychischen Grenzen zu erkennen. Unsere Wahrnehmung ist sehr begrenzt und umfasst nur einen Bruchteil der nach unserem Zeitmaßstab Jahrmilliarden zurückliegenden und gegenwärtigen kosmischen Ereignisse. Vor allem nicht jene, die sich unserer Erfahrung überhaupt entziehen.
Grundsätzlich ist zu betonen, dass die „Was-ist“-Fragen keine wirklichen Aufschlüsse ergeben. „Was-ist“-Fragen sind, wie der Philosoph Karl R. Popper (1902–1994) erläutert hat, niemals fruchtbar, auch wenn sie von Philosophen häufig gestellt und behandelt werden.
„Was-ist“-Fragen sind immer in Gefahr, zu einem Verbalismus zu degenerieren, zu einer Diskussion über die Bedeutung von Worten und Begriffen. Oder zur Diskussion über Definitionen. Solche Bemühungen und Definitionsversuche seien aber nutzlos.
Unsere Vernunft wird durch Fragen gequält, die sie nicht abweisen, aber auch nicht zweifelsfrei beantworten kann. Solche Fragen beziehen sich auch auf die Religion. Sie bringen inneres Bedürfnis und intellektuelle Redlichkeit in eine spannungsreiche Konstellation. Die Überzeugung, dass es Seiendes gibt, das alle wissenschaftlichen Theorien, alle Formen begrifflichen Denkens überschreitet, ist die Grundlage der Hochreligionen wie Hinduismus, Sikhismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam, nicht aber nur von diesen.
Der Begriff Religion ist nicht eindeutig zu bestimmen. Er stammt aus dem Lateinischen, von „religare“ = zurückbinden, also an etwas wie Bindung denken. Oder von „relegere“ = immer wieder lesen, also ein wiederholtes intensives Lesen. Der Begriff Religion steht für eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Richtungen des Glaubens. Religionen bieten Modelle an, mit denen versucht wird, unseren Platz im kosmischen Geschehen zu finden. Die Weltreligionen wurden geschaffen, als die Menschheit beispielsweise noch glaubte, dass die Sonne um die Erde kreist und wir die Krone der Schöpfung seien. Seit Charles Darwin (1809–1882) wissen wir, dass auch Letzteres nicht der Fall ist.
Der religiöse Glaube, die Delegierung von Absichten, von übergeordneten Ursachen in ein Reich außerhalb möglicher Erfahrung, war wohl – wie der Evolutionsforscher Rupert Riedl (1925–2005) feststellt – des menschlichen Bewusstseins früheste geistige Regung. Gemäß Franz M. Wuketits bildete die Entwicklung religiösen Glaubens vermutlich einen Überlebensvorteil im Daseinskampf.
R. Vaas und M. Blume in „Gott, Gene und Gehirn, warum Glaube nützt, die Evolution der Religiosität“ (Stuttgart, Hirzel 2009) meinen, dass Religiosität sich in der Evolution als nützlich erwiesen hat. Der Genforscher Dean Hamer in „Das Gottes-Gen“ (München, Kösel, 2006) führt die Religiosität auf ein bestimmtes Gen zurück. Er postuliert, dass der gesamte Bereich des Religiösen, die Annahme eines oder mehrerer höherer Wesen, die Andacht, religiöse Riten, auf die Aktivität des Gens VMAT2 zurückgehe. Dessen Aktivität bringe die Gesamtheit der Möglichkeiten religiösen Erlebens hervor. Dessen Nichtaktivität dann eben das Gegenteil.
Ebenso wie Wissenschaft und Kunst habe auch die Religiosität ihre Herkunft aus den frühen Stadien des Menschseins. Es stellt sich die Frage, ob die kulturell erfolgten Aufspaltungen der religiösen Glaubensrichtungen in zum Teil sich aggressiv gegenüberstehenden Zweigen und Sekten vielleicht eine Fehlentwicklung im Rahmen der Evolutionsgeschichte darstellt?
Besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen Psychiater religiöse Erfahrungen und insbesondere dem Erleben von Religionsstiftern, Mystikern, Propheten und Heiligen im Nachhinein klinische Diagnosen anzuheften. Dabei wurde vor den Größten keineswegs Halt gemacht. Bis heute lässt sich eine Tendenz der psychologischen und medizinischen Wissenschaft, das Religiöse mit dem Pathologischen zu identifizieren, nicht leugnen. Allerdings stehen in der Zwischenzeit, wie der Psychologe und Psychotherapeut Georg Milzner in „Religion und Gehirn, die Integration von Hirnforschung und religiöser Erfahrung“ (Verlag Via Nova, Petersberg) ausführt, weniger die psychiatrischen Krankheitsbilder im Raum als vielmehr die neurologischen.
Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins in „Der Gotteswahn“ (Berlin, Ullstein, 2007) unterstellt der Religiosität krankhafte Züge. Der Neurologe Sigmund Freud (1856–1939), wie auch Friedrich Nietzsche, haben Religionen als kollektive Zwangsneurosen und als wahnhafte Erscheinungen beschrieben.
Wo und wie das Psychische im Gehirn entsteht, wie sich unsere Gefühlswelt, unsere Persönlichkeit und unser Ich formen, wird heute mit Hilfe neurobiologischer Verfahren von der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) bis zur Elektro- und Magnetoenzephalographie (MEG) und im Gehirn eingeführte Elektroden erforscht. Die Frage, ob es Spiritualität, religiöse Erfahrungen auch ohne Gehirne geben könnte, ist aber schlichtweg nicht zu beantworten. So ist wohl das Gehirn der wesentliche Konstrukteur, kann aber auch das Medium für religiöse Erfahrungen sein.
Kritisch äußert sich Georg Milzner dahingehend, dass die konstruktivistischen Modelle einer echten Religiosität und religiöser Erfahrung nicht gerecht werden. Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sich wertneutral gibt, sei das Gelände der Religion von Werten nicht nur nicht frei, sondern wird von diesen entscheidend zu einem beträchtlichen Teil bestimmt.
Es gab eine Epoche in der Menschheitsgeschichte, in der das Psychische, die Wissenschaft von der Natur und das Metaphysische, der Glaube an etwas jenseits der Natur, einander nicht ausschlossen. Heute besteht zwischen Naturwissenschaften und Religionen eine mehr oder minder markante Trennung. Die heutige Zeit, dabei besonders die so genannten westlichen Gesellschaften, sind weitgehend laizistisch geprägt. Das Religiöse ist für das gelebte Leben von geringerer Bedeutung als ehedem. Personale Gottesbegriffe werden zunehmend durch abstrakte Begriffe ersetzt. Diese lassen sich auf den Kosmos bezogen denken.
Abstrakte Gottesbegriffe können sehr einfach und allgemein verständlich formuliert werden. Diese sind aber einer bildlichen Vorstellung nicht zugänglich. Sie eignen sich, um Göttliches religionsübergreifend zu umschreiben und Brücken zwischen den Religionen zu schlagen.
Gott lässt sich aber letztlich nicht auf Begriffe reduzieren.
Gott ist die Liebe Gott ist Erkennen Gott offenbart sich in Handlungen
Meister Eckhart der Natur
Wer in der Liebe bleibt, (ca. 1260–1328) Galileo Galilei
Der bleibt in Gott (1564–1641)
Und Gott in ihm.
1. Johannes, Die Bibel
Gott ist Urheber der Gott ist die Ursache Die Wahrheit ist Gott
Allgemeinen Harmonie aller Dinge Mahatma Gandhi
Gottfried Wilhelm Leibnitz Louis Pasteur (1646–1716) (1869–1948)
(1822–1895)
Gott ist wesensgleich mit Gott ist eine grenzenlos Gott ist die zentrale Ordnung
der naturgesetzlichen überlegene Vernunft der Wirklichkeit
Macht Albert Einstein Werner Heisenberg
Max Planck (1879–1955) (1901–1976)
(1858–1947)
Gott ist unser Wort für die eine Kraft,
die alles trägt und bewegt und schafft.
Gerulf Stix
Es geht bei den ganzen jeweils aufgeworfenen Hintergrundfragen um nichts weniger als um die ersten und letzten Dinge in einem von uns als ein Energiegeschehen wahrgenommenen und mathematisch berechneten Universum. Wissenschaften und Religionen sind Produkte und Konstruktionen menschlichen Geistes. Sie können nicht über ihre Urheber hinausgehen. Dies ist im Prinzip seit Immanuel Kant klar. Wissenschaft unterliegt den Beschränkungen menschlicher Einsichtsfähigkeit und ist immer an eine Perspektive gebunden. Beobachten und Erleben sind voneinander nicht zu trennen. Weltbilder und Glaubensparadigmen sind Abstraktionen, die sich soziale Gesellschaften in den jeweiligen Phasen ihrer Geschichte zu eigen machen. Religionsanhänger halten sich an den Lehren von Konfessionen fest. Es wird das Bildhafte, das die dahinter befindliche Abstraktion verdeutlichen soll, als konkret aufgefasst. Andererseits wird dazu geneigt, Abstraktionen für absolute Wahrheiten zu halten.
Eigentlich ist mit den modernen physikalischen Theorien über Urknall, dunkle Materie, dunkle Energie, Planck-Energie, Branenwelten, Quantengravitation, Higgs-Teilchen und so weiter, gewissermaßen wie beim Religiösen ein transzendentes Überschreiten gegeben. Es ist jedenfalls eine Grenze für unsere Erkenntnisse, eine Grenze für unser logisches und rationales Denken gegeben. Unsere Gehirne sind nicht dazu entstanden, um das Universum zu verstehen, sondern in erster Linie zum Überleben unserer Art. Dazu meint Regine Kather in „Was ist Leben? Philosophische Positionen und Perspektiven“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003), dass im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit der Welt und uns selbst neue Bedürfnisse entstehen, die über das hinausgehen, was zur Sicherung des Überlebens notwendig wäre. Es genügt nicht, argumentierte bereits Platon, nur zu überleben und sich einfach wohlzufühlen.
Durch die Orientierung an Werten können Lebensqualitäten realisiert werden, die nicht nur der Erhaltung des sozialen Systems dienen, sondern als Qualitäten selbst angestrebt werden.
Die meist von materialistischen Gesichtspunkten geprägten wissenschaftlichen Theorien und Modelle reichen von den im Kosmos stattgefundenen und stattfindenden physikalischen und chemischen Selbstorganisationsprozessen und den dabei hervorgebrachten Eigenschaften bis dahin, dass in der Evolution stattfindende körperliche und Bewusstseinsvorgänge aller Formen des Lebendigen durch bestimmte Inputs und nicht durch Fütterung durch einen absoluten Geist vor sich gehen. Das geht bis zur Ansicht, dass der Planet Erde, alle Lebensformen, letztlich energetische Teilchen im Meer eines kosmischen Energiegeschehens darstellen. Alles aus Atomen und Molekülen Bestehende geht früher oder später in andere Atom- und Molekülverbände über. Nichts davon wird zu nichts.
Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf.
Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume.
Ich leb in euch, ich geh in eure Träume,
da uns, die wir vereint,
Verwandlung traf.
Michelangelo
Zur religiösen Frage nach der Weiterexistenz unseres individuellen Gemütszustandes, der Seele, wird von neurologischer Seite festgestellt, dass der Hirntod das absolute Kriterium des Totseins darstellt. Seelen müssten, da hirnlos, damit ohne ein Ich und somit völlig gestaltungslos in einer Raum- und Zeitlosigkeit auskommen. Die unsterbliche Seele, die ein Mensch habe, sei der ihn überdauernde Eindruck, den er in der Erinnerung anderer Mitmenschen hinterlässt.
Menschen erfüllt es mit Ehrfurcht und Staunen, wenn von der Ewigkeit gesprochen wird. In der Ewigkeit ist aber nichts, ist niemand, weil nur sein kann, was in Raum und Zeit ist.
Hinter allen aufgeworfenen Fragen befinden sich leider Fragezeichen. Fragen, die sich der Vernunft und dem Verstand entziehen. Manchen genügen die Fragezeichen. Wahrscheinlich könnten wir die absoluten Antworten gar nicht begreifen. Wenn man dies könnte, so lehrt die Philosophie, wirft jede Antwort eine neue Frage auf.
Die Fähigkeit, mit relativen Wahrheiten und relativem Wissen zu leben, ein Eingebettetsein in Seiendes, mache wohl das Wesen menschlicher Reife aus.
Es scheint, dass der wirklichen Wirklichkeit, auch uns selbst, etwas innewohnt, das nicht begreifbar ist, das höchst geheimnisvoll und unergründlich irgendwie erahnbar ist.