VOn Dieter Grillmayer
„An der Spitze der Bildungsdirektion steht der Bildungsdirektor, die Bildungsdirektorin als Bundesbedienstete, Bundesbediensteter, die, der auf Vorschlag des Landeshauptmannes oder Landeshauptfrau von dem zuständigen Bundesminister, der Bundesministerin ernannt wird. Der Bildungsdirektor, die Bildungsdirektorin übt die Dienst- und Fachaufsicht aller Bediensteten der Bildungsdirektion aus. Er, sie wird auf fünf Jahre bestellt.“
So lautet ein Absatz des inkonsequenter Weise mit „Vortrag an den Ministerrat“ überschriebenen 18-seitigen Papiers der SPÖ-ÖVP-Bildungsreformkommission, nachzulesen im Internet unter www.bmbf.gv.at/ministerium/vp/2015/20151117.pdf. Meine 14-jährige Enkelin konnte nur ungläubig den Kopf schütteln, als ich ihr dieses Kauderwelsch als Textstelle in einem „Bildungspapier“ vorstellte. Soviel vorab, ehe ich zur inhaltlichen Kritik an dem von SPÖ-Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und ÖVP-Staatssekretär Dr. Harald Mahrer am 17. November 2015 vorgestellten Schulreform-Paket der SPÖ-ÖVP-Koalition komme.
Noch am gleichen Tag sind dazu mehrere treffliche Kommentare abgegeben worden. Rechnungshof-Präsident Dr. Josef Moser etwa meinte: „Das Kompetenz-Wirrwarr bleibt. Die Bildungsdirektionen sind nur ein neues Türschild.“ Der FPÖ-Bildungssprecher Dr. Walter Rosenkranz bemängelte: „Nur um den Abgabetermin einzuhalten, haben SPÖ und ÖVP ein Papier aus Absichtserklärungen und Alibimaßnahmen zusammengestellt.“ Und der Lehrer-Gewerkschafter Paul Kimberger sagte im ORF: „Wir machten in den letzten Jahren den Fehler, dass wir glaubten, dass die Frage der Schulorganisation und Schulverwaltung etwas mit erfolgreicher Bildung zu tun hat. Das ist ein Irrtum.“
Als einer, der diese Binsenweisheit seit vielen Jahren predigt, ist mir das Einbekenntnis Kimbergers zwar eine Genugtuung, aber bis zur Bundesregierung hat sich das wohl noch nicht herumgesprochen. Wie alle nationalen und internationalen Testergebnisse zeigen, hat die österreichische Schule ein massives Qualitätsproblem. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Man hätte also erwarten dürfen, dass sich eine von den Regierungsparteien endlich in Angriff genommene Schulreform schwerpunktmäßig diesem Thema widmen würde. Tatsächlich aber ist von einer Hebung des Schulniveaus im „Vortrag an den Ministerrat“ – gegendert müsste es natürlich „Ministerinnen- und Ministerrat“ heißen – kein einziges Mal die Rede, bestenfalls von einer Qualitätssicherung. Das ist eher eine gefährliche Drohung als eine positive Ansage.
Ehe ich auf einzelne Punkte des Reformpapiers eingehe, sei noch bemerkt, dass mehrere davon (Modellregionen, Bildungsdirektionen, Schulautonomie) im Parlament einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedürfen, um Realität werden zu können. Dafür ist die Zustimmung entweder der FPÖ oder der Grünen zwingend erforderlich. Frau BM Heinisch-Hosek ist guter Hoffnung, dass bis Ende Juni 2016 die entsprechenden Gesetze vorliegen. Angesichts des Zustandes der Koalition ist nicht einmal sicher, ob diese bis Mitte nächsten Jahres überhaupt durchhält. Und wenn ja, dann wird sie um Abweichungen von den jetzt vorgelegten Plänen nicht herumkommen, wenn sie eine der genannten Oppositionsparteien mit ins Boot holen will. Die Grünen haben Zustimmung nur für den Fall signalisiert, dass die 15-Prozent-Schranke bei den Modellregionen nach oben korrigiert wird. Wenn da die ÖVP hart bleibt und nicht (wieder einmal) „umfällt“, dann wird es keine Modellregionen geben, wie solche von der FPÖ ohnehin abgelehnt werden. Und bei Vorhaben, die keiner Verfassungsmehrheit bedürfen, könnte die Umsetzung in Zeiten des Sparzwanges auch am fehlenden Geld scheitern. Derzeit wird also nur über ungelegte Eier gesprochen und das ganze Schulreform-Paket hat durchaus das Potenzial, sich in Luft aufzulösen.
Man darf wohl davon ausgehen, dass das Hauptmotiv für die Einsetzung der koalitionären Bildungsreformkommission der Streit um die Gesamtschule war bzw. die Absicht, diesen aus der Welt zu schaffen. Der gefundene Kompromiss ist geeignet, die Sache für zehn Jahre vom Tisch zu haben, befriedigt aber niemanden. Es wird nämlich jedem Bundesland freigestellt, Modellregionen einzurichten, in denen für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen nur die Neue Mittelschule (NMS) angeboten wird; allerdings dürfen diese Regionen (zusammen) in keinem Bundesland „15 % aller Standorte der jeweiligen Schulart sowie 15 % aller Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Schulart überschreiten. Bestehende Standorte sind nicht einzurechnen.“ Erst im Jahr 2025 soll evaluiert werden, was in den Modellregionen herausgekommen ist, mit der Folgeentscheidung, entweder generell zum gegliederten System (NMS und AHS-Unterstufe) zurückzukehren oder die Gesamtschule generell einzuführen. Wie gesagt: erst 2025!
Vor allem die ÖVP hatte in dieser Frage Handlungsbedarf, sind doch „ihre“ Landeshauptleute in Vorarlberg und in Tirol der Partei in den Rücken gefallen und haben sich für die Gesamtschule stark gemacht. Als Motiv führt LH Platter das gute Südtiroler Schulsystem an, wo es keine achtjährigen Gymnasien gibt, und LH Wallner will damit wohl das Elend der NMS lindern, die offenbar nicht nur in Wien, sondern auch in Vorarlberg mit seinem großen Migrantenanteil zu Restschulen verkommen, weil fast alle einheimischen Zehnjährigen, auch wenn diese die dafür notwendige Begabung nicht besitzen, ins Gymnasium geschickt werden. (Eine echte Eignungskontrolle gibt es ja schon lange nicht mehr bzw. scheitert eine entsprechende Reformmaßnahme am Einspruch der SPÖ.) Bildungsbuch-Autor Andreas Salcher hat für die Intentionen der zwei ÖVP-Landeshauptleute allerdings eine simplere Erklärung: „Es gibt einen 30-jährigen Krieg zwischen Gesamtschule und differenziertem System. Da bist du nur dann ein Reformer, wenn du für die Gesamtschule bist. Bist du das nicht, bist du ein finsterer Reaktionär. Platter und Wallner wollen sich wohl reformerisch geben.“ („Die Presse“ vom 25. November 2015.)
Der Kompromiss befriedigt niemanden. Die Gesamtschul-Lobby will ihr Projekt sofort und nicht erst in zehn Jahren verwirklicht sehen, und sie stößt sich natürlich auch an der 15-Prozent-Marke. Die Grünen vermuten, LH Wallner, der das ganze „Ländle“ zur Modellregion machen will, werde sich die 15 Prozent sowieso nicht gefallen lassen, und sie wollen den Prozentsatz kräftig erhöht haben, wie schon bemerkt worden ist.
Die Gesamtschul-Gegner halten die Modellregionen schon deswegen für überflüssig, weil es solche z. B. in Deutschland ohnehin gibt und man daher auch bereits weiß, was dabei herauskommt: Die alten Hauptschulen werden als „Gemeinschaftsschulen“ zwar etwas aufgewertet, aber die schwachen Schüler werden dadurch nicht besser und die (intellektuell) Begabten erfahren in ihnen weniger Förderung als in einem ganz „normalen“ Gymnasium. Also wird das Bildungsniveau insgesamt abgesenkt und nicht angehoben, wie es dringend geboten wäre. Auch die viel gelobte soziale Integration und eine gerechtere Verteilung der Bildungschancen findet nicht statt, wie Gesamtschul-Befürworter Univ.-Prof. Helmut Fend, der einen entsprechenden Schulversuch in Gießen begleitet hat, unlängst wie folgt ernüchtert feststellte: „Nie hat mich das Ergebnis meiner Forschungen so überrascht und enttäuscht wie diesmal. Die Gesamtschule schafft nicht mehr Bildungsgerechtigkeit als die Schulen des gegliederten Systems.“
Wie Frau BM Heinisch-Hosek auf Anfrage mitteilte, müssen die achtjährigen AHS-Formen, die in einer Modellregion liegen, ihre Unterstufen auf die NMS-Struktur umstellen. Lehrer, die dann dort nicht mehr unterrichten wollen, könnten ja einen Versetzungsantrag stellen, meinte die Ministerin flapsig, und Schüler der Region, die unbedingt in eine AHS-Unterstufe gehen wollen, die müssten dann eben auspendeln. Aus der FPÖ verlautet, schon wegen dieser Zwangsmaßnahmen werde sie den Modellregionen nicht zustimmen, ganz abgesehen davon, dass die Freiheitlichen ohnehin strikte Gegner der Gesamtschulphilosophie sind.
Was alle an einer qualitativen Verbesserung des österr. Schulsystems wirklich Interessierten aber am meisten stört, das ist der reformerische Stillstand bis 2025, der mit der Schaffung von Modellregionen eintreten würde. Denn im Banne eines laufenden Schulversuchs ist weder an eine Reform der NMS zu denken, wie ich eine solche in FM 2/2015 und im GENIUS-Brief vom 1. Juni 2015 angedacht habe, noch an die mindestens ebenso wichtige Reform der achtjährigen Gymnasien und Realgymnasien, um diesen ihren Bildungsauftrag zurückzugeben, nämlich die (intellektuell) überdurchschnittlich begabten Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu fördern.
Berichten zufolge überschattete die Arbeit der SPÖ-ÖVP-Kommission der Streit darüber, wer in Hinkunft die Lehrer verwalten solle; nach dem Wunsch der SPÖ der Bund, nach dem Wunsch der ÖVP die Länder. Derzeit ist für die Pflichtschullehrer („Landeslehrer“) das Land zuständig, alle anderen sind „Bundeslehrer“, und so wird es auch bleiben. Der hier gefundene Kompromiss besteht nämlich vor allem darin, die Landesschulräte in Bildungsdirektionen als gemeinsame Bundes-Länderbehörden umzubenennen, welche die – wie bisher in Bundeslehrer und Landeslehrer getrennte – Lehrerverwaltung, die sonstige Verwaltungsarbeit und die Schulaufsicht übernehmen, während die „Ratsfunktionen“ abgeschafft werden sollen. Jeder Bildungsdirektion steht ein Bildungsdirektor vor, der auf Vorschlag des Landes vom Bund bestellt wird und sohin ein Bundesbeamter ist. Die politischen Agenden des bisherigen Amtsführenden LSR-Präsidenten gehen auf den Landeshauptmann oder auf den für Schule und Bildung zuständigen Landesrat über, was in Vorarlberg schon bisher so gehandhabt wurde. Das Amt des LSR-Vizepräsidenten, das verfassungsgemäß in fünf Bundesländern der zweitgrößten Landtagsfraktion zusteht, wird abgeschafft. Der Vizepräsident hat „nur“ eine Kontrollfunktion und steht in Wien, Kärnten und Oberösterreich derzeit der FPÖ zu. (Im Burgenland, in Salzburg, in Tirol und in Vorarlberg gibt es das Amt ohnehin nicht.) Die nach dem Ergebnis der Landtagswahlen politisch besetzten Kollegien der Landesschulräte sollen abgeschafft werden.
Wenn an diesen Plänen – abgesehen von einer gewissen „Augenauswischerei“ – etwas zu kritisieren ist, dann ist es die letztgenannte Maßnahme. Die Kollegien wurden von den damals regierenden Deutschliberalen in den späten 1860er-Jahren als demokratische Beratungs- und Entscheidungsforen geschaffen, um dem vormals übermächtigen Einfluss der (katholischen) Kirche auf das Schulwesen endgültig und nachhaltig ein Ende zu setzen. Sie blieben ein nur für den Schulbereich installiertes zweites „Landesparlament“ neben dem Landtag und damit ein Unikat. Heutzutage ist ihre Hauptaufgabe die Erstellung von Dreiervorschlägen für Direktorenernennungen. Um diesen Entscheidungen den Anstrich des „Parteipolitischen“ zu nehmen, haben die meisten Bundesländer aber inzwischen Auswahlverfahren entwickelt, welche die Kollegien teilweise präjudizieren, und zwar bis zur totalen „Entmachtung“ wie z. B. in Oberösterreich. Bleibt dann im Wesentlichen nur mehr die Aufgabe, Vorlagen für Schulgesetze und Verordnungen zu begutachten und Änderungsvorschläge zu machen. Nach meiner langjährigen Erfahrung als Kollegiumsmitglied in OÖ weiß ich, wie mühsam und nutzlos diese Arbeit ist, werden doch die Landesvorschläge vom Bund in aller Regel ignoriert. Aus all diesen Gründen würde ich der Abschaffung der Kollegien keine Träne nachweinen.
Scharf zu kritisieren ist allerdings die Unverfrorenheit von StS Mahrer, der am 17.11. im ORF behauptete, dass damit 500 „Posten“ und 6 Mio. Euro eingespart würden. Denn in Wirklichkeit ist es so, dass die Mitglieder der Kollegien keine „Posten“ besetzen, weil sie nichts bezahlt bekommen. Sie können bestenfalls die Fahrtkosten zu den Sitzungen verrechnen. Dazu kommt das Scheinargument der „Entpolitisierung der Direktorenernennungen“. Zu diesem Thema steht im SPÖ-ÖVP-Papier derzeit nur: „Bestellung der Schul-Direktoreninnen und Schuldirektoren erfolgt nach einem bundeseinheitlichen Objektivierungsverfahren, das von Bund und Ländern gemeinsam zu entwickeln ist.“ Einheitliche Objektivierungsstandards sind positiv. Dem Vernehmen nach sollen die konkreten Vorschläge aber dann von je zwei Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemacht werden, was dem rot-schwarzen Proporz wiederum alle Türen öffnet! Der Handschlag in der Pressekonferenz am 17.11. zwischen BM Heinisch-Hosek und StS Mahrer war dafür durchaus symbolträchtig.
Die einzelnen Schulen erhalten mehr den Lehrstoff betreffende sowie mehr finanzielle und personelle Spielräume. Die Lehrer können ihren Unterricht damit freier gestalten und sogar eigene Schulfächer schaffen. In den Volksschulen dürfen sie bis zu fünf Prozent, in den Gymnasien bis zu einem Drittel und in der Sekundarstufe II bis zu 20 Prozent vom Lehrplan abweichen. Auch beim Personaleinsatz gibt es Flexibilität: Eine Schule kann entscheiden, ob anstelle eines Lehrers ein Psychologe, ein Sozialarbeiter, ein IT-Experte oder ein anderer Spezialist eingesetzt wird. Mehr Geld bzw. ein zusätzliches Support-Personal, wie von der Lehrergewerkschaft gefordert, soll es also nicht geben.
Mit einer noch größeren Lehrplanautonomie, als es sie ohnedies bereits gibt, wird ein Problem vergrößert, auf welches ich schon mehrmals hingewiesen habe. Die drei wesentlichen Aufgaben des Staates im Schulbereich sind die Zielvorgaben (Lehrpläne), die Erfolgskontrolle und die Finanzierung. Ein Staat, der es seinen Schulen erlaubt, bis zu einem Drittel von den Lehrplanvorgaben abzuweichen, der vernachlässigt eine seiner Hauptaufgaben! Wie soll denn am Ende eine Zentralmatura (als ein Akt der Erfolgskontrolle) gelingen, wenn davor derart große Freiräume aufgebaut worden sind? Sie kann unter dieser Randbedingung nur dann funktionieren, wenn sie sich auf ein ganz eng umschriebenes Kernwissen und Kernkönnen beschränkt, was mit dem Bildungsauftrag einer Höheren Schule schlichtweg unvereinbar ist.
Die hier angekündigte Lehrplangroßzügigkeit ist das beste Mittel, die Zentralmatura ad absurdum zu führen!
Mit etwas Phantasie kann man aus dem Papier herauslesen, dass die erweiterte Lehrplanautonomie vor allem dazu dienen soll, durch gesetzliche Deregulierung und Verantwortungsübertragung an die Standorte den Wildwuchs der bisherigen „Schulversuche“ zu beenden bzw. zumindest stark einzuschränken. Dem Gedanken ist durchaus etwas abzugewinnen, doch könnte auch hier der Schuss nach hinten los gehen. Es gab dazu bereits einen großen Protest der 150 Musik-Volksschulen. Dieser Schulversuch besteht seit 30 Jahren und die derzeit 9.000 Schüler haben pro Woche bis zu 4 Stunden Musikunterricht. Nach der neuen 5 %-Autonomie für Volksschulen mit ihren 24 Wochenstunden könnten diese dann aber nur mehr über 1,2 Stunden selber entscheiden. Böse Überraschungen bei anderen Schulversuchen sind vorprogrammiert.
Das „Autonomiepaket“ enthält auch Vorschläge zur Kompetenzausweitung der Schuldirektoren, allerdings nur hinsichtlich des Schulmanagements, nicht der pädagogischen Führung. Die Direktoren sollen generell von Stellvertretern unterstützt und nur mehr auf fünf Jahre bestellt werden, allerdings mit der Option auf Weiterbestellung im Falle der Bewährung. Aber wer beurteilt das? Die Ankündigung, Direktoren dürften sich in Hinkunft ihre Lehrer aussuchen, wird umgehend durch den Passus relativiert, dass nach wie vor die Behörde das letzte Wort hat. Hier sehe ich gar keinen Fortschritt, weil das ganz ohne gesetzliche Normierung auch jetzt schon der Fall ist, wenn in den Schuldirektionen und in den Schulbehörden kompetente Amtsträger sitzen und zwischen ihnen ein gewisses Vertrauensverhältnis besteht.
Der Vollständigkeit halber erwähne ich, dass in dem Papier auch von einer flächendeckenden Verfügbarkeit eines ultraschnellen Breitbandinternets sowie Netzwerks (WLAN oder Nachfolgetechnologie) bis 2020 die Rede ist. Wer glaubt, dass damit eine Verbesserung der Unterrichtsqualität verbunden sein werde, den wird das freuen. Ich und viele meiner Berufskollegen, insbesondere Mathematiker, glauben das nicht.
Die Einführung von zwei verpflichtenden Kindergartenjahren erscheint mir als der einzige Vorschlag, der die Anhebung des Bildungs- und Ausbildungsniveaus, insbesondere der Kinder mit Migrationshintergrund, zu gewährleisten imstande sein könnte. Die Verpflichtung erscheint auf den ersten Blick notwendig, um vor allem die Kinder zu erreichen, welche eine Frühförderung am dringendsten benötigen. Sie schränkt aber auch das Elternrecht dort ein, wo eine solche Förderung unnötig ist. Dem wird durch eine „Opt-out-Möglichkeit“ nach drei Monaten entgegengewirkt. Das heißt: Stellt sich nach drei Monaten heraus, dass das Kind die Frühförderung nicht braucht, so kann es aus dem Kindergarten wieder entlassen werden.
Dagegen laufen vor allem Kinderpsychologen Sturm: „Unter vielen völligen Absurditäten in dem Reformpapier ist das die absurdeste Geschichte“, sagt Heidemarie Lex-Nalis von der Elementarpädagogik-Plattform Educare. Es sei für Kinder immer traumatisierend, das erste Mal von den Eltern getrennt zu sein. Sie bräuchten Zeit, sich an die Umgebung zu gewöhnen. Nach drei Monaten hätten sich die meisten Kinder gut eingewöhnt, sie dann wieder aus einer Gruppe rauszureißen sei „eine fachlich suspekte Geschichte“, so Lex-Nalis. (Wörtlich zitiert aus „Die Presse“ vom 19. November 2015.)
Diese Kritik ist nachvollziehbar und die Maßnahme erscheint überhaupt unnötig angesichts der Tatsache, dass das SPÖ-ÖVP-Papier ohnehin die „Einführung einer verpflichtenden Potenzialanalyse ab 3,5 Jahren (Sprach- und Entwicklungsscreenings) im Rahmen eines Eltern-Kind-Pädagoginnen- und Pädagogen-Gesprächs im Kindergarten“ vorsieht. Warum kann diese Potenzialanalyse nicht Grundlage der Entscheidung sein, ob der Kindergartenbesuch ab vier Jahren zwingend erforderlich ist oder nicht?
Die Regierung ist sich bewusst, dass ein verpflichtender Kindergartenbesuch die Eltern nichts kosten darf und vor allem das zweite Jahr – aus Raum- und Personalgründen – eine erhebliche Budget-Mehrbelastung bedeutet. (Alle anderen Reformvorschläge werden als aufkommensneutral bezeichnet.) Das ganze „Elementarpädagogikpaket“ könnte also an der Finanzierung bzw. einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden scheitern.
Die folgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das mehrfach kritisierte Fehlen der Anhebung der Kindergartenpädagogen-Ausbildung in den tertiären Bereich beurteile ich eher positiv, wie ich die im Vorjahr beschlossene „Voll-Akademisierung“ der Pflichtschullehrer-Ausbildung für pädagogisch falsch halte. In Wirklichkeit waren dabei auch keine pädagogischen, sondern ausschließlich dienst- und besoldungsrechtliche Motive im Spiel.
Was mir aber dringend fehlt, das ist die Ausweitung der Schulautonomie in dem Bereich, der durch das Schulunterrichtsgesetz (SchUG) und seine Verordnungen geregelt ist. Davon ist im SPÖ-ÖVP-Papier überhaupt nicht die Rede. Ein kleines Beispiel: Das SchUG bzw. die zugehörige Verordnung normiert genau, wie viele versäumte Schularbeiten ein Schüler nachmachen muss und wie viele nicht. Sollte man das nicht der Schule bzw. dem betroffenen Lehrer überlassen? Ist es nicht widersinnig, dass die im Lehrplan vorgesehene Anzahl von einzelnen Schülern – z. T. mit Absicht – unterschritten werden kann?
Oder: Schulinterne Verhaltensvereinbarungen und Sanktionen bei Fehlverhalten. Warum denn bitte nicht? Es ist doch undenkbar, dass irgendeine Schule die Prügelstrafe wieder einführt oder sonst etwas Schlimmes anstellt. Da wäre doch sofort die Presse da, es gäbe einen Riesenwirbel und die Schule wäre erledigt. Da kann man sich getrost auf die „Abstimmung mit den Füßen“ verlassen. Aber offenbar befürchten die Linksdenker genau das. In eine Schule, wo „Recht und Ordnung“ herrschen, da würden die Eltern ihre Kinder hingeben. Eine andere, wo es drunter und drüber geht, und solche gibt es bekanntermaßen nicht wenige, die würde bald keine Schüler mehr haben, oder sie müsste gegensteuern. Was nützt einem Schulleiter die versprochene Kompetenzerweiterung, wenn sie sich nicht auf pädagogische Lenkungsmaßnahmen bezieht? Diktatorisch kann er sowieso nicht agieren, solange er um die Zustimmung von Schulforen bzw. SGAs bemüht sein muss, was selbstverständlich so bleiben soll.
Bereits erwähnt habe ich die Notwendigkeit, die Aufnahmevoraussetzungen für den Besuch einer AHS-Unterstufe zu reformieren, wobei ich gewiss nicht an die Wiedereinführung einer punktuellen Aufnahmeprüfung denke. Indes propagiere ich schon seit langem ein kombiniertes Verfahren, in welches das Urteil des Volksschullehrers, das Ergebnis eines Aufnahmetests und der Verlauf eines Vorstellungsgesprächs einfließen. Auch davon ist im Reformpapier der Regierungsparteien nicht die Rede. Aus gutem Grund, ist es doch eine schon seit Jahrzehnten geübte Strategie der SPÖ, die AHS-Unterstufe qualitativ abzuwerten in der Hoffnung, damit der Gesamtschule näher zu kommen.
Zuletzt noch etwas, das dringend abgeschafft gehört, nämlich die „schulautonomen Tage“, weil diese in Haushalten, in denen Vater und Mutter einem Beruf nachgehen und wo nicht jederzeit verfügbare Großeltern oder sonstige Betreuungspersonen bereitstehen, absolut elternfeindlich sind. Bei z. B. drei Kindern in verschiedenen Schulen gibt es an bis zu zwölf Tagen im Jahr Aufsichtsprobleme. Es wundert mich wirklich, dass sich die Eltern das noch immer gefallen lassen.
Damit spreche ich natürlich auch ein größeres Problem an, nämlich die Anzahl der Schultage, die während des Unterrichtsjahres, abgesehen von den Haupt-, Weihnachts-, Semester- und Osterferien, insgesamt entfallen. Meiner Meinung nach sind das zu viele, wodurch schulische Übungszeit in den Sprachen und in Mathematik, aber sehr wohl auch z. B. in „Bewegung und Sport“, verloren geht. Eine Einschränkung auf die gesetzlichen Feiertage und bundeseinheitlich festzulegende Zwickeltage wäre also nicht nur familienfreundlich, sondern auch pädagogisch begründbar. Aber an so sinnvolle und einfach administrierbare Reformmaßnahmen hat in der SPÖ-ÖVP-Kommission wohl niemand gedacht.