Eine Buchbesprechung von Gerulf Stix
Dieses Buch strotzt nur so vor Originalität, darunter mit vielen Geistesblitzen. Wer vor diesem dicken Wälzer zurückschreckt, ändert seine Einstellung, sobald er auch nur ein wenig hineingelesen hat. Der flüssige Schreibstil, die unverblümte Ausdrucksweise sowie die mitunter recht spritzigen Aussagen und Thesen stimulieren zur Lektüre. Inhaltlich tut sich dem Leser eine umfassende Weltsicht auf. Die teilweise verblüffenden Interpretationen von Geschichte ebenso wie von hautnaher Gegenwartspolitik regen ungemein zum Denken an. Dass dieses Buch von einem Autodidakten geschrieben wurde, sieht man ihm nicht an. Erst bei näherer Befassung damit findet man ab und zu formale Mängel; hie und da den einen und anderen rechnerischen bzw. mathematischen Fehler. Gelegentlich empfindet man Darstellungen bzw. Schlussfolgerungen als zu pointiert, manchem mag man auch nicht zustimmen. Diese punktuellen Feststellungen ändern jedoch nichts an der zusammenfassenden Beurteilung, dass es sich insgesamt um ein überraschend gut gelungenes und vor allem anregend geschriebenes Werk ohne „wissenschaftlichen Kauderwelsch“ handelt.
Der Titel des Buches „Atlantik oder Levante“ drückt genau die Hauptthese des Inhalts aus. Ein längeres Zitat möge die vorangestellten Gedankengänge zusammenfassend widerspiegeln: „Wenn die Europäer weiter an ihrer moralischen Überlegenheit festhalten, wenn sie weiterhin das Starke verteufeln und wenn sie weiterhin in erfolgreichen Unternehmern und Unternehmen die Melkkühe der Nation sehen, dann könnte es eines Tages dazu kommen, dass es in jedem chinesischen Städtchen mehr Weltraumfahrzeuge gibt als in ganz Europa. Italien als moderner Staat könnte scheitern, wenn die Reformen nicht bald gelingen. Frankreich leidet unter einer schlimmen Besatzungsmacht: den eigenen Bürokraten. Spanien hat seit den Zeiten der Inquisition kein nachhaltiges Geschäftsmodell entwickelt. England hat sich zu sehr dem Finanzsektor unterworfen. Länder wie Polen, Tschechien, die Slowakei oder Ungarn haben ihre Aufholjagd erst begonnenund sind wirtschaftlich ebenso wie die Niederlande und Österreich eigentlich ein Teil Deutschlands; eines Deutschlands, das noch in der Ersten Liga der Wirtschafts- und Technologie-Nationen mitspielen kann. In dem Moment, wo auch Deutschland nur noch Zweite Liga ist, werden die Unternehmen und die geistigen Eliten aus Europa fliehen, unabhängig davon, ob es eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Außenpolitik oder eine Frauenquote gibt. In dem Moment, wo Deutschland wirtschaftlich und technologisch nur noch Zweite Liga ist, wird das bisherige Supergewicht der Weltwirtschaft – die europäische Kernregion – an Ausstrahlungskraft verlieren. Als Konkurrent könnte die Levante als neues Zentrum westlich von Indien auferstehen. Europa könnte zur Peripherie dieses neuen Zentrums verkommen; mit all den negativen Folgen, die nun einmal damit verbunden sind, Peripherie statt Zentrum zu sein.“ (Seite 991 f). Das klingt zwar nicht sehr wissenschaftlich, trifft aber den Nagel auf den Kopf. Aus der Sicht eines Kommentators wäre nur die Anmerkung hinzuzufügen, dass eine gewisse „Flucht“ aus Europa in die USA aus Kreisen der Wirtschaft, der Wissenschaft und anderer intelligenten Gruppen längst schon stattfindet.
Der Buchautor hat strategisch gesehen Recht, wenn er meint, dass sich Europa zwischen dem Atlantik und der Levante entscheiden müsse.
Der offenbar sehr belesene Autor stellt z. B. 15 verschiedene „Erklärungsversuche“ vor, „weshalb die Welt so europäisch“ ist. In der Liste finden sich Namen wie Samuel P. Huntington oder Nikolai Kondratieff. Dann folgt die Vorstellung der sieben „Schlüssel-Mächte der Erde“. Unter den wichtigen „weiteren Staaten“– teilweise einander überlappend – findet sich gleich an zweiter Stelle die Türkei. Immerhin „waren die Osmanen über 600 Jahre an der Macht“. Über die Ausdehnung des Osmanischen Reiches schreibt Friedrich: „Nur das Britische Empire mit knapp 40 Mio. qkm, das Reich der Mongolen mit rund 25–35 Mio. qkm und die Sowjetunion mit rund 22 Mio. qkm umfassten mehr zusammenhängende Fläche.“ Und abrundend zur heutigen Türkei: „Die Türkei ist in der NATO, was letztendlich eine Fortsetzung der englischen und französischen Strategie zur Eindämmung Russlands seit dem Krim-Krieg ist und von den Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegriffen wurde. Der Bosporus ist bis heute der Sperrriegel gegen Russland. Das macht die Türkei zu einer wichtigen Schachfigur der Amerikaner, auch wenn sich die Türken unter Erdogan zunehmend von den USA und Europa emanzipieren“. (S. 263 ff.). In diesem Stil werden alle wichtigen Staaten und Ländergruppen abgehandelt.
Auch andere Gruppierungen werden beleuchtet und bewertet. Das reicht von der Hanse über die EU, von der NATO bis zur UNO. Ebenso erfahren die NGOs, die Freimaurer, die Bilderberger usw. bis hin zu den großen Handelsgesellschaften und internationalen Unternehmen eine eingehende Betrachtung. Es geht bei Letzteren vielfach um deren hartnäckige Bestrebungen, die Herrschaft über wichtige Rohstoffe und über Energieträger aller Art zu erlangen. Dabei kommt die Rolle, die die Erneuerbaren Energien (EE) spielen, nicht zu kurz.
Etwa die Hälfte des Buches ist mehr oder weniger allgemeinen geopolitischen Betrachtungen gewidmet. „Demografie als Machtfaktor“ wird da ebenso untersucht wie der „Machtfaktor Religion“. Den Religionen widmet das Buch fast 50 Seiten. Dort liest man u. a.: „Bis heute sind es die Religionen, die neben der Sprache Völker verbinden oder trennen. Samuel Huntington, dessen Werk „The Clash of Civilisations“ („Kampf der Kulturen“) bereits erwähnt wurde, sieht die Religion als Triebkraft für Abgrenzung und Konflikte im 21. Jahrhundert. Zivilisatorische Bruchlinien verlaufen heute nicht mehr durch Ozeane, Flüsse oder Gebirge, sondern kulturell unversöhnliche Welten stoßen in Form der Religion immer öfter in unseren Städten aufeinander.“ Das ist zweifellos eine realitätsnahe Beobachtung.
Auch die weltweite Verstädterung wird dargestellt und es werden ihre Auswirkungen interpretiert. Dieses Problem wird uns in Zukunft noch stark beschäftigen!
Eine besondere Würdigung erfährt der „Schlüsselfaktor Mensch“. Dabei muss angemerkt werden, dass der Autor immer wieder versucht, etwa den IQ in verschiedenen Bevölkerungen auch quantitativ zu erfassen und in Formeln zu pressen. (Vgl. dazu Friedrichs jüngste Streitschrift „Über die exponentielle Wirkung der Intelligenz“). Einerseits kann man diese Versuche formal skeptisch sehen, andererseits bewegt sich der Autor damit cum grano salis und grundsätzlich richtig auf den Spuren von Thilo Sarrazin oder Volkmar Weiss, die er beide zitiert. Jedenfalls wecken diese Gedankenexperimente Interesse. Gelegentlich neigt der Autor zu mathematischen Darstellungsweisen, wie er ganz allgemein gesprochen auch ein Freak von Tabellen ist.
Von der Lage EU-Europas malt der Verfasser ein dramatisches Bild und begründet es. Dazu und abschließend seien verkürzt seine eigenen Worte zitiert: „Europa darf a) nicht zum Imperium werden und b) Europa … darf nicht bis in die Levante wuchern, weil Europa dort sowohl seine Identität als auch seinen Wohlstand verlieren würde. In der Levante wird es die westliche Welt zerreißen. Europa würde hier langfristig zur Peripherie der Levante und Amerika würde ohne seine europäische Mutter entweder zur Peripherie Asiens oder ebenfalls zur Peripherie der Levante… Die USA, Kanada, die EU und Russland, sie alle gehören zur europäischen Familie… Doch mit dem EU-Beitritt der Türkei wird ein Wettkampf der Gravitations-Zentren einsetzen, der dem Kampf zweier Universen gleicht. Ein Kampf, der erst dann beendet sein wird, wenn das stärkere Universum das schwächere aufgefressen/aufgesogen hat.“ So befindet der Autor.
Dem Verleger Dr. Rainer Welz muss man zu dem Mut gratulieren, dieses sehr umfangreiche Werk eines zwar klugen, doch praktisch unbekannten Außenseiters überhaupt veröffentlicht zu haben.