Von Bernd Stracke
„Spiegel“-Redakteur Claas Relotius, 33, fabrizierte quasi ein „Förderband der Lügen“ (© Akif Pirinçci). Sein Fall gilt unter Branchenkennern als der größte deutsche Medienskandal seit Auffliegen der von Konrad Paul Kujau gefälschten, 1983 im „Stern“ veröffentlichten angeblichen „Hitler-Tagebücher“. Die Imageschäden für die Medienbranche sind enorm. Aber: Man muss Relotius und Menasse eigentlich dankbar sein, durch sie offenbarte sich wohl ein ganzes System. Journalistenpreise – im deutschsprachigen Raum werden pro Jahr rund 500 vergeben – begünstigen die Verhaberung zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Redaktionen bejubeln sich und lassen sich von den „Verhaberten“ bejubeln. In unserem Sprachschatz fand mittlerweile die Wortschöpfung „Relotium“ als Synonym für den „Spiegel“ Eingang. Auch ein neues Verb wurde kreiert: „relotieren“. Und für Relotius’ „kleineren Bruder im Geiste“, den Wiener Autor Robert Menasse, wurde für schlampigen Umgang mit der Wahrheit das Wort „menassieren“ geboren. Im Folgenden sollen drei Themenkomplexe erörtert werden: Die Relotius-Preise, die Relotius-Medien und der „Fall Menasse“. Der im Raum stehende Betrugsverdacht gegen Relotius im Zusammenhang mit Leser-Geldspenden bleibt, da Ermittlungen noch laufen, unter Betonung der Unschuldsvermutung, hier unbehandelt.
Der Relotius für seine zum Teil gefälschte Reportage „Löwenjungen“ (in der es um zwei angeblich von der Dschihadistenmiliz IS verschleppte und gefolterte irakische Kinder geht, die zu Sprengstoffattentätern werden) verliehene Peter-Scholl-Latour-Preis 2018 wurde ihm am 19. Dezember entzogen. Die mit 24.000 EUR dotierte, nach dem Publizisten Peter Scholl-Latour (1924–2014) benannte Auszeichnung wurde 2015 erstmals ausgelobt, und zwar von der Spendenorganisation „Plan International Deutschland“ (Jahreseinnahmen ca. 150 Mio. EUR, ein Vorstandsmitglied ist der Ex-ORF-Journalist und Ex-„News“-Generaldirektor Rudi Klausnitzer), und von der „Ulrich-Wickert-Stiftung“ (benannt nach dem Journalisten und Ehemann der Gruner+Jahr-COE Julia Jäkel). Verliehen wird der Preis für Berichte über das Leid von Menschen in Krisen- und Konfliktzonen.
Relotius erhielt ihn 2018 für seine Spiegel-Reportage „Nummer 440” über den Jemeniten Bwasir (vgl. weiter unten „Reemtsma-Liberty-Award“ und „Reporter-Preise“). Relotius gab Fälschungen zu und seinen Preis zurück. Für denselben Artikel hatte Relotius auch den Deutschen Reporterpreis (vgl. weiter unten) erhalten. Der mit 3.500 Euro dotierte, seit 2012 alle zwei Jahre vom Presseclub Niederrhein, dem Dudenverlag und der Stadt Wesel verliehene Duden-Preis zeichnet Beiträge aus, die „durch außergewöhnliche Sprachbeherrschung auffallen“. Die Jury besteht u. a. aus den Chefredakteuren der Rheinischen Post und der Neuen Rhein Zeitung (zählt zur Funke-Gruppe, vormals WAZ, die Beteiligungen u. a. an „Krone“, Kurier, News, Format, „profil“ sowie diversen TV- und Radiosendern hält), sowie der Weseler Bürgermeisterin (derzeit Ulrike Westkamp, SPD).
Ein Riesentamtam wurde im November 2018 rund um die Verleihung des 20. Kindernothilfe-Medienpreises im Berliner Schloss Bellevue inszeniert. Im Scheinwerferlicht stand Claas Relotius, der für die (teilgefälschte, auch mit dem Scholl-Latour-Preis gekrönte, vgl. oben) „Spiegel“-Story „Löwenjungen“ geehrt wurde. Bei der Gala würdigte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Preis als „zivilgesellschaftliche Initiative, die hilft, Kinderrechte bekannter zu machen“ und führte zu den Preistexten (Relotius’ Kolleginnen Natalie Amiri und Anna Tillack hatten den TV-Beitrag „Verschwunden in Deutschland – Auf der Suche nach vermissten Flüchtlingsjungen“ produziert) aus: „Es sind Berichte, die nahegehen, erschüttern und uns nicht so schnell aus dem Kopf gehen werden (…) Wir brauchen Menschen, die uns von solchem Grauen erzählen, damit Sensibilität wächst (…) Wir brauchen die in jeder Hinsicht harte journalistische Arbeit, die hinter all diesen Erzählungen steht. Journalistische Arbeit, aus der sowohl Können als auch Haltung spricht.“ Ähnliches sprach auch die Preis-Schirmherrin Christina Rau, Witwe des früheren deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau. Viele weitere Prominente bis hinauf zu Außenminister Heiko Maas ehrten die Preisträger durch ihre Anwesenheit. Die Kindernothilfe zählt zu den größten NGO’s für Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland. Zehntausende Paten und Spender, Vereine, Firmen, Schulen, Stiftungen, Kirchen u. v. m. unterstützen ihre Arbeit finanziell und ehrenamtlich, Prominente nutzen ihre Bekanntheit, um die Anliegen dieser Organisation zu kommunizieren. Der rotweißrote Ableger „Kindernothilfe Österreich“ wird von Mag. Gottfried Mernyi (nicht zu verwechseln mit Willi Mernyi, dem Mauthausenkomitee-Vorsitzenden, ORF-Stiftungsratmitglied und Mobilisator der Anti-12-Stundentag-Demos) gemanagt.
Die Deutsche Bischofskonferenz vergibt seit 2003 den „Katholischen Medienpreis“, der Medienschaffende „zu qualitäts- und werteorientiertem Journalismus motivieren“ soll. Ausgezeichnet werden Beiträge, die die Orientierung an christlichen Werten fördern, humanitäres und soziales Verantwortungsbewusstsein stärken und zum Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften, Religionen und Kulturen beitragen. Der Preis wird mit jeweils 5.000 Euro in den Kategorien E-Medien und Printmedien verliehen. 2017 nahm in Bonn seine Exzellenz Gebhard Fürst, Vorsitzender der Publizistikkommission der Bischofskonferenz und Juryvorsitzender, die Verleihung vor. Relotius war Preisträger in der Kategorie „Print“ für den 2016 im „Spiegel“ publizierten Beitrag „Königskinder“ (vgl. weiter unten). In dem Artikel geht es um das Geschwisterpaar Alin und Ahmed aus Aleppo. Bischof Fürst führte aus: „Es ist das große Verdienst von Claas Relotius, auf Schicksale aufmerksam zu machen, nach denen hierzulande kaum jemand fragt.“ Laudatio folgte auf Laudatio. Das Wort ergriffen ARD-Programmdirektor Volker Herres und der Chefredakteur des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags, Stefan Kläsener. Patricia Riekel, Ex-Chefredakteurin der „Bunten“, lobte Relotius’ Werk überschwänglich: „Wortungetüme“ seien es, „mit denen die Politik in der Flüchtlingsfrage jongliert und die uns fast vergessen lassen, von was hier die Rede ist: von rund 60 Mio. Menschen, die weltweit auf der Flucht sind“. Erst in der Nahaufnahme durch die erschütternde Reportage von Claas Relotius bekämen sie ein Gesicht, eine Geschichte. Die Bischofskonferenz ging in Details: „Über drei Mio. Flüchtlinge, die meisten aus Syrien, leben in der Türkei. Fast die Hälfte von ihnen sind Kinder. Die Geschwister aus Aleppo haben miterlebt, wie eine Granate ihr Haus zerstörte und ihre Mutter ums Leben kam. Ihr Vater wurde erschossen, als er Brot kaufen wollte. Mit letztem Geld bezahlte der Onkel zwei Schlepper, die den Kindern zur Flucht verhalfen. Jetzt arbeiten die Geschwister unter sklavenähnlichen Verhältnissen in der Türkei. Der Junge schleppt für Cent-Beträge Schrott, das Mädchen näht zehn Stunden am Tag Krokodile auf Fake-Shirts. Relotius’ Geschichte steht prototypisch für Flüchtlingskinder aus Syrien. Sie sehnen sich nach einem Zuhause, sie wollen nach Deutschland, das ihnen wie das Paradies erscheint, ein Land, in dem angeblich eine gütige Königin regiert, von der sie nur den Namen kennen: Angela Merkel. Es ist das große Verdienst von Claas Relotius, auf Schicksale aufmerksam zu machen, nach denen hierzulande kaum jemand fragt. Der Beitrag schildert sachlich und rüttelt eben deshalb wach. Damit entspricht er in herausragender Weise der Zielsetzung des Katholischen Medienpreises.“ Nach Auffliegen der Fälschungsaffäre verstummte der Bischof allerdings. Er schickte seinen Pressesprecher Matthias Korp vor, der dann verlautbarte: „Nachdem Claas Relotius gestern (Anm.: 27. Dezember 2018) über seinen Anwalt öffentlich zugab, den Beitrag ‚Königskinder‘ in wesentlichen Punkten gefälscht zu haben, aberkennt ihm die Bischofskonferenz den Preis und wird von ihm das 5.000-Euro-Preisgeld zurückfordern.“
Auch der Europäische Journalistenpreis „European Press Prize (EPP) 2017“ in der Kategorie „Distinguished Writing Award“ ging – für seine „Story of Ahmed and Alin“ („Königskinder“) – an Relotius, mit deren Bejubelung sich auch schon die Jury des Katholischen Medienpreises blamiert hatte (vgl. oben). Der EPP ist mit 40.000 EUR dotiert (je 10.000 EUR für die Kategorien „Investigative Reporting Award“, „Distinguished Reporting Award“, „Opinion Award“ und „Innovation Award“) und wird seit 2012 von der Amsterdamer „European Press Prize Foundation“ (EPPF), unterstützt u. a. durch „The Guardian Foundation“, „Politiken“ und den „Media Development Investment Fund“ für „herausragenden Journalismus“ an Autoren vergeben, die Staatsbürger eines der 47 Europarats-Mitgliedsstaaten sind. In der Jury sitzen neben Sir Harold Evans von der „Sunday Times“, der Ex-Chefredakteurin von „Le Monde“ Sylvie Kauffmann, Chefredakteurin Yevgenia Albats von der Putin-kritischen russisch-armenischen „New Times“ und dem Vizeobmann der dänischen „Jyllands-Posten Foundation“ Jørgen Ejbøl auch Alexandra Föderl-Schmid, die frühere „Standard“-Chefredakteurin und jetzige Israel-Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“.
Seit 2011 verleiht der Medienclub Coburg e. V. jährlich den mit 3.750 EUR dotierten „Coburger Medienpreis“, der 2012 in der Kategorie „Nachwuchs national“ an Claas Relotius für die im „Zeit Magazin“ veröffentlichte Geschichte „Vertraute Kulisse“ über eine Siedlung für Demenzkranke ging. Gesponsert wird der Preis von Banken und der Wirtschaft.
Eine verlässliche Verifizierung von Relotius’ Auszeichnung als „CNN-Journalist des Jahres“ erweist sich als nicht einfach. Bei Durchsicht des Links https://www.thewrap.com/former-winner-of-cnns-journalist-of-the-year-admits-he-fabricated-stories/ stößt man auf eine Passage, wonach Relotius 2014 für die Story „Murderers as Carers“ in der Schweizer Publikation „Reportagen“ den „Award“ als besten Print-Text des Jahres erhalten habe. Darin sei es um demenzkranke US-Gefängnisinsassen gegangen. Demnach könnte es sich dabei um den Text „Vertraute Kulisse“ im „Zeit Magazin“ handeln, für den Relotius bereits 2011 den „Coburger Medienpreis“ erhalten hatte (vgl. oben). CNN ließ eine entsprechende Anfrage unbeantwortet. Es habe lediglich ein „CNN-Insider“ konstatiert, dass Relotius „niemals für CNN gearbeitet“ („never worked for CNN“) habe. Diesem Insider zufolge sei Relotius für einen „vor mehr als vier Jahren in einem Schweizer Magazin“ veröffentlichten Text ausgezeichnet worden. Der Preis sei von CNN „gesponsert“, Relotius zugesprochen und ihm in der Folge wieder aberkannt worden. Laut Wikipedia ist der „CNN Journalist Award Germany/Austria/Switzerland“ (dt. CNN Journalisten-Preis) eine von CNN International als Nachwuchspreis für Auslandsjournalismus vergebene Auszeichnung. Der Sender wolle mit dem 10.000-EUR-Preis junge Medientalente unter 34 Jahren fördern. Unter den von Wikipedia namentlich angeführten 48 Preisträgern von 2005 bis 2015 scheint Relotius allerdings nicht auf.
Relotius erhielt 2017 den letzten „Reemtsma Liberty Award“ („Freiheitspreis“) für seine Spiegel-Reportage „Nummer 440“ über einen Jemeniten in Guantanamo (vgl. weiter oben „Konrad-Duden-Preis“ und weiter unten „Reporterpreise“) und die „Königskinder“-Reportage (vgl. oben). Wie von einer seltsamen Ahnung inspiriert, ließen die Verleiher den Preis kurz vor dem Auffliegen der Relotius-Fälschungen sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden. Auf der Internetseite ( https://www.liberty-award.de/ ) bekommt man lapidar zu lesen: „12 Jahre Liberty Award – 12 ausgezeichnete Auslandsjournalistinnen und -Journalisten – 12 glanzvolle Preisverleihungen in Berlin mit inspirierenden Rednern sowie großartigen Gästen. Nun nimmt Reemtsma Abschied vom Liberty Award. Es war uns eine Freude, all die Jahre großartigen Journalismus und die Pressefreiheit zu unterstützen.“ Der mit 15.000 EUR dotierte Award war seit 2007 jährlich von der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH gestiftet worden, um Auslandsreporter auszuzeichnen, die „Außergewöhnliches für die Freiheit der Medien, der Gesellschaft und damit für die Freiheit eines jeden Einzelnen leisten“. Zuletzt waren Journalisten geehrt worden, die sich mit den Themen Mittelmeer-Flüchtlinge, Syrien, dem Kongo und der Ukraine befassten. Umstritten war der Preis freilich schon länger. Er sei „auf Lobbyisten, Politiker und Journalisten ausgerichtet, um entsprechende Netzwerke aufzubauen“, meinten Kritiker. Der Jury gehörten u. a. Focus-Herausgeber Helmut Markwort, „Zeit“-Herausgeber Theo Sommer, „Bild“-Vizechefredakteur Nikolaus Blome, die Produzentin Tita von Hardenberg (eigentlich Katharina Habsburg-Lothringen-Kyburg), ARD-Studiochefin Tina Hassel und der irakischstämmige FAZ-Redakteur Majid Sattar an. Die milliardenschwere Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH ist eine Tochter der „Imperial Brands plc.“ mit Sitz in Bristol (international viertgrößter Tabakanbieter mit 36.000 Mitarbeitern und u. a. den Marken Davidoff, Gauloises und Gitanes), gegen die seit 2003 wegen Steuer- und Zollvergehen ermittelt wird.
Jan Philipp Reemtsma, Sohn von Philipp Fürchtegott Reemtsma (1893–1959), der nach Verkauf seines Erbteils mit einem Vermögen von 700 Mio. EUR zu den 150 reichsten Deutschen zählt, hat mit dem elterlichen Zigarettenimperium seit 1980 nichts mehr zu tun. Kriminelle, die ihn 1996 entführt und teilweise bis heute verschwundenes Lösegeld erpresst hatten, verbüßten langjährige Haftstrafen, einer wurde Opfer eines ungeklärten Mordes. Als Mäzen für kulturelle und politische Initiativen spielte Jan Philipp Reemtsma eine bedeutende Rolle in der so genannten Wehrmachtsausstellung, die auch nicht gerade die Wahrheit gepachtet hatte: 1999 wurden „Fehler bei der Zuordnung von Fotos“ entlarvt, die „nicht deutsche, sondern sowjetische Verbrechen zeigten“. Historiker fanden heraus, dass „überhaupt die Hälfte der Fotos mit Kriegsverbrechen nichts zu tun“ hatte. Nur zehn Prozent aller 800 Fotos würden tatsächlich Wehrmachtsverbrechen zeigen; die übrigen Bilder dokumentierten Taten von ungarischen, finnischen und kroatischen Soldaten, Hilfswilligen aus der Ukraine, Russland und den baltischen Staaten. Der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller warf den Ausstellungsautoren Irreführung des Massenpublikums vor. Institutsleiter Jan Philipp Reemtsma sah sich gezwungen, die Ausstellung zurückzuziehen. Eine Historikerkommission kam zum Ergebnis, die Ausstellung enthalte „sachliche Fehler, Ungenauigkeiten sowie allzu pauschale und suggestive Aussagen.“ Von Fotoquellen sei „bemerkenswert unbekümmert Gebrauch gemacht“ worden, was „in geschichtswissenschaftlichen und populären Publikationen leider sehr verbreitet“ sei. Der Historiker Krisztián Ungváry sagte, die Kommission habe „parteiisch und ungenau“ gearbeitet. Traditionsverbände ehemaliger Wehrmachtssoldaten hatten die Ausstellung von Beginn an abgelehnt.
Relotius gelang es 2017 sogar, in der Kategorie „Media“ (Medien) auf dieser Ruhmestafel des potenten US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“ zu landen. Allerdings währte die Ehre nicht lange: In einer „Editor’s note“ vom 20. Dezember 2018 heißt es: „Der Spiegel teilte mit, dass interne Recherchen ergaben, dass Claas Relotius über mehrere Jahre hindurch umfangreichen journalistischen Betrug begangen“ habe („commited large-scale journalistic fraud over several years“). Nicht unpikant erscheint, dass auf dieser Internetseite direkt unter Relotius’ Altersangabe und Wohnsitzvermerk namentlich auf zwei „Connections“ (Verbindungen) hingewiesen wird: Nämlich auf die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und auf die deutsche Vorzeige-Unternehmerin Verena Pausder.
Der Österreichische Zeitschriften- und Fachmedien-Verband (ÖZV) – in seinen Führungsgremien sind u. a. die „News“-Gruppe, der Manstein-Verlag, die Styria Lifestyle GmbH, der Compass-Verlag, der ÖAMTC-Verlag, der Ärzteverlag, der Österreichische Wirtschaftsverlag, die Manz’sche Verlagsbuchhandlung und der Springer Verlag vertreten – verlieh Relotius 2012 für seine „profil“-Geschichte „Die größten Verbrecher sind oft die kultiviertesten Persönlichkeiten“ den Förderpreis des Österreichischen Zeitschriftenpreises (*). Dabei handelt es sich um ein Interview mit dem 2013 verstorbenen französisch-vietnamesischen Anwalt Jacques Vergès, der sich auf die Verteidigung prominenter und oft umstrittener Personen wie Klaus Barbie, Slobodan Miloševic und den Terroristen Carlos spezialisiert hatte (vgl. unten Kapitel „Relotius-Medien – Die Welt“). Der Text wird laut „profil“ geprüft, obwohl „keine Hinweise auf Fälschung hindeuten“.
Der ÖZV ist seinerseits – neben dem Verband Österreichischer Zeitungen (VÖZ), der Journalistengewerkschaft in der GPA-DJP, dem Verband der Regionalmedien (VRM), dem Verein der Chefredakteure sowie dem Presseclub Concordia (PCC) – Mitglied des sicher nicht rechtslastigen und mit seinen Entscheidungen immer wieder Kopfschütteln auslösenden Presserates (**).
(*) Außer dem Förderpreis vergibt der ÖZV u. a. auch noch den „Journalistenpreis Integration“, der zuletzt ebenfalls an einen „profil“-Journalisten ging: Die Jury dekorierte damit 2018 Clemens Neuhold für den Artikel „Flüchtlinge aus Somalia“.
(**) Dieser Verein hat die Selbstkontrolle von Printmedien auf seine Fahnen geschrieben, gibt den „Presse-Ehrenkodex“ heraus und wird zum erheblichen Teil aus Steuermitteln (Presseförderung!) finanziert. In drei Senaten sind u. a. vertreten der „Standard“ (Hans Rauscher, Renate Graber), das „profil“ (Christa Zöchling), der „Falter“ (Nina Brnada), „News“ (Tessa Prager), der „Kurier“ (Anita Staudacher, Eva Gogala), die „Wiener Zeitung“ (Paul Vécsei, Ina Weber), „Österreich“ (Werner Schima), die „Salzburger Nachrichten“ (Andreas Koller) , die „Presse“ (Duygu Özkan, Benedikt Kommenda), die „Kleine Zeitung (Michael Jungwirth), die Tiroler Tageszeitung (Carmen Pötz-Baumgartner) und die „Vorarlberger Nachrichten“ (Birgit Entner).
Gleich vier der 55 Texte, die Relotius für den „Spiegel“ verfasst hatte, erhielten den „Deutschen Reporterpreis“. Den Reigen eröffnete 2013 das Opus „Der Mörder als Pfleger – was passiert mit dementen Häftlingen“, ausgezeichnet als „beste Reportage“ und medial vielfach wiedergekäut, darunter in einer Sonderausgabe von „Alzheimer Schweiz“ (Stämpfli-Verlag). 2015 folgte der von Relotius eingereichte Text „Gottes Diener“, ein Porträt über den angeblich letzten Arzt, der in Mississippi noch Abtreibungen vornimmt. Der „Spiegel“ geht davon aus, dass die Geschichte „zumindest in Teilen verfälscht“ ist. Reporterpreis Nummer drei gab es für die 2016 im „Spiegel“ publizierte Story „Nummer 440“ (vgl. oben „Konrad-Duden-Preis“ und „Reemtsma-Liberty-Award“). Diese „bewegende Reportage“ setzte sich gegen alle weiteren 50 Bewerber durch. Den vierten Reporterpreis erhielt Relotius im Dezember 2018 für seine Reportage „Ein Kinderspiel“. Der „Spiegel“ fasst zusammen: „Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah (…) Er hat nach Meinung der Jury wieder die beste Reportage des Jahres geschrieben, über einen syrischen Jungen diesmal, der im Glauben lebt, durch einen Kinderstreich den Bürgerkrieg im Land mit ausgelöst zu haben. Die Juroren würdigen einen Text ‚von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert’. Aber in Wahrheit ist, was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann, leider alles offen. Alle Quellen sind trüb. Vieles ist wohl erdacht, erfunden, gelogen. Zitate, Orte, Szenen, vermeintliche Menschen aus Fleisch und Blut. Fake.“ Das „Reporter-Forum“, ein Journalistennetzwerk, das die Preise seit 2009 verleiht, äußerte sich „entsetzt und wütend“ über die „geradezu kriminelle Energie“, mit der Relotius Organisatoren und Juroren täuschte. Der Preis will „besonders gute Reporter belohnen und Debatten befeuern“. Die Jury ist selbst mit preisgekrönten Reportern besetzt. Finanzielle Unterstützungen kamen/kommen von der Rudolf Augstein Stiftung, von der Robert Bosch Stiftung und von der Augustinum Gruppe, die näher anzuschauen es sich lohnt:
Die Homepage der Universität Liechtenstein („bei uns studierst du nach schweizerischen wie internationalen Qualitätsstandards“) listete Relotius bei Redaktionsschluss in ihrem „Dozententeam 2018“ auf. Als „Learning outcomes“ werden sichere Handhabung von Information und Recherche, richtige Einschätzung von Relevanz und Objektivität, Beherrschung eines praxisnahen Instrumentariums für den journalistischen Alltag, sowie – schmunzeln erlaubt! – bewusster Umgang mit Qualitäten angepriesen. Die Ausbildungsmodule umfassen u. a. – weiterschmunzeln erlaubt! – „Glaubwürdigkeit von Quellen“, „Fakten und Meinung“ und „Storytelling in der Medienarbeit“. Als Relotius’ prominente Dozentenkollegen scheinen der ORF-„Bürgeranwalt“ Peter Resetarits sowie Astrid Zimmermann auf, ehemalige „Standard“-Redakteurin, Generalsekretärin des Wiener Presseclubs „Concordia“, Ex-Journalistengewerkschaftspräsidentin und Gründerin des feministischen „Frauennetzwerkes Medien“. Ob Zimmermanns falsche Auslobung als „Präsidentin des Presserates“ auf der Uni-Homepage pure Hochstapelei oder „nur“ ein Versehen ist, bleibe dahingestellt. Auf eine Genius-Anfrage hin präzisierte Uni-Kommunikationschef Herwig Dämon: „Die Medienakademie findet in Kooperation zwischen der Universität Liechtenstein, dem Liechtensteiner Presseclub, dem Presseclub Concordia Wien und der Regierung des Fürstentums Liechtenstein statt. Die Teilnahme ist durch die Unterstützung der Regierung des Fürstentums Liechtenstein kostenlos, die Auswahl der 12 Teilnehmenden für 2019 erfolgt im Mai/Juni dieses Jahres.“
Neben krimineller Energie kann man Relotius auch kommerzielles Geschick nicht absprechen: Er brachte seine „Storys“ in zum Teil angesehenen Medien unter:
1. Spiegel: In mindestens 14 seiner Texte hat Relotius Passagen erfunden. Die Verträge von „Spiegel“-Ressortleiter Ullrich Fichtner (er hatte Relotius ins Haus geholt, langezeit dessen Arbeiten betreut und sollte mit 1. Jänner 2019 in die Chefredaktion aufrücken) wurden mittlerweile „auf Eis gelegt“. Claas würde wohl heute noch „relotieren“, hätte nicht sein „Spiegel“-Kollege Juan Moreno – gegen den Widerstand der „Spiegel“-Vorgesetzten – auf eigene Faust recherchiert und Relotius der Fälschungen überführt.
2. Cicero: Für dieses politische Monatsmagazin, dessen Verlag „Res Publica“ mit dem Slogan „Journalismus aus Leidenschaft“ wirbt und sich „einzig und allein höchsten journalistischen Qualitätsansprüchen verpflichtet sieht, schrieb Relotius vor allem Auslandsreportagen und Interviews. Resignierend gibt das Blatt zu: „Nach bisherigem Erkenntnisstand muss davon ausgegangen werden, dass kein Text von Claas Relotius sauber ist. Aus diesem Grund nehmen wir alle seine Texte offline.“ Darunter befindet sich auch ein Interview, das Relotius mit dem proisraelischen jüdischen Autor Leon de Winter führte, getitelt mit „Kokettieren mit ‚der rechten Scheiße’ “.
3. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag (NZZ): Sie redet nicht um den Brei herum: „Er hat betrogen, Fakten verdreht, Begegnungen erfunden und die Dinge schöner geschrieben als sie sind – auch bei uns in der NZZ am Sonntag.“ Für seine Reportage „Auge um Auge, Blut um Blut“, in der es um Blutrache ging, begleitete Relotius einen vermeintlichen albanischen NGO-Vertreter namens Jenva Bashi – ein solcher hat dort freilich nie gearbeitet. In „Gangster’s Paradise“ berichtete Relotius über die norwegische Gefängnisinsel Bastoy, auf der sich Häftlinge frei bewegen können. Der Gefangene Per Kastad habe es dort nicht ausgehalten und um Verlegung in ein normales Gefängnis gebeten. Freilich: Per Kastad existierte nicht. In der Rubrik „Beim Coiffeur“ druckte die „NZZ Folio“ einen Text ab, in dem eine Friseurin namens Hannu Sundel angeblich ein klares Statement gegen die zuwanderungskritische rechtspopulistische Partei „Wahre Finnen“ abgab. Eine aufmerksame NZZ-Leserin kritisierte, dass „Hannu“ keine Friseurin sein könne, da es sich dabei um den finnischen Männernamen für „Hans“ handle. Auch der beschriebene Coiffeursalon in Lahti existiere nicht. Die NZZ veröffentlichte ein Korrigendum und beendete die Zusammenarbeit mit Relotius.
4. „TAZ“: Die Beiträge, die Relotius in der Hamburger Genossenschafter-Tageszeitung „TAZ“ (ab einer Einzahlung von 500 EUR wird man „Genosse“, der Haus-Slogan lautet „40 Jahre unabhängige Presse von links“) schrieb, werden nun „geprüft“, verspricht Chefredakteur Georg Löwisch. Er meint aber, die Debatte um Relotius nehme „mittlerweile hysterische Züge an“. Denn: „Wenn ein Heiratsschwindler entlarvt wird, steht doch deshalb nicht die Institution Ehe insgesamt auf dem Prüfstand.“ Relotius sei „Produkt eines journalistischen Zeitgeistes, der Schönschreiben feiert und Recherche und Quellen-Transparenz vernachlässigt.“ Der Begriff „Geschichte“ sei eben „sehr nah an Märchen“ und es scheine „verführerisch, hier und da ein bisschen auszuschmücken“.
5. „Welt“: Sie schließt nicht aus, dass bei ihr erschienene Relotius-Texte „nicht den journalistischen Qualitätskriterien entsprechen, die wir voraussetzen“. Aufgrund „ernsthafter Zweifel“ wurden bis zum Abschluss interner Untersuchungen sämtliche Relotius-Artikel von der „Welt“-Webseite gelöscht. In „Mein Nachbar, der Tod“ skizziert Relotius das Porträt des Bestatters José Alvarez in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez, der vom Drogenkrieg und seinen Leichen profitiert. Die „Welt“-Nachrecherche im Juárez-Rathaus ergab:„Ein Bestattungsinstitut namens Alvarez oder José Alvarez existiert in unserer Stadt nicht.“ In „Der „Advokat des Teufels“ gibt Relotius ein angebliches Interview mit dem 2013 verstorbenen französischen Anwalt Jacques Vergès wieder (vgl. oben „Österr. Zeitschriftenpreis“). Die „Welt“ sieht sich derzeit außerstande nachzuweisen, dass Relotius überhaupt in jene Länder gereist ist, aus denen er berichtet haben will. Die von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gegründete und 1953 von Axel Springer übernommene „Welt“ wird dem bürgerlich-konservativen Spektrum zugerechnet und in 130 Ländern verkauft. In besseren Zeiten hatte die Zeitung eine Auflage von einer Million, wobei aber 2014 bekannt wurde, dass rund 42 Prozent der gemeldeten verkauften Auflage nicht an Abonnenten oder in den Straßenverkauf gingen, sondern unterpreisig oder gar gratis als „Bordexemplare“ oder per „Sonderverkauf“ abgesetzt wurden. Gegenwärtig beträgt die verkaufte Auflage nur noch 162.000 Exemplare.
6. Süddeutsche Zeitung: Sie berichtet „in eigener Sache“, dass ihr SZ-Magazin zwei manipulierte Interviews von Claas Relotius veröffentlicht hatte: Zum einen ein Gespräch mit dem New Yorker Herrenschneider Martin Greenfield, zum anderen ein Gespräch mit den Woodstock-Veteranen Barbara und Nicholas Ercoline. Laut SZ weisen beide Interviews Fehler auf und verstoßen gegen journalistische Standards. Der Sohn von Martin Greenfield spricht von „zahlreichen Beschönigungen und Fehlern“ und Relotius gestand, Interviewpassagen „manipuliert“ und mit Zitaten aus Greenfields Autobiografie „verdichtet“ zu haben. Die interviewten Barbara und Nicholas Ercoline fühlen sich in der Veröffentlichung „massiv missverstanden“ und Relotius gab auch hier zu, dass das Gespräch „Unsauberkeiten“ enthalte. Das SZ-Magazin entschuldigte sich bei den Betroffenen und bei seinen Lesern: „Obgleich jeder Beitrag im SZ-Magazin durch zahlreiche Hände geht und vielfach geprüft wird, haben wir uns von Claas Relotius gleich zweimal täuschen lassen.“ Beide Interviews wurden von der Webseite entfernt.
7. „Weltwoche“-Chefredaktor und Verleger Roger Köppel konstatiert ebenfalls „in eigener Sache“: „Ob und inwieweit die Weltwoche durch Fälschungen betroffen ist, wird untersucht. Wir nehmen die Sache ernst und prüfen die Relotius-Texte. Dem beschuldigten Autor wird Gehör eingeräumt.“ Übrigens war es die „Weltwoche“, die 1995 den „Fall Binjamin Wilkomirski“ aufdeckte: Der gelernte Klarinettist hatte im „Jüdischen Verlag“ (der zur Suhrkamp-Gruppe gehört) das als Autobiographie deklarierte Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948“ herausgegeben, worin der Autor schildert, wie er als jüdisches Kind in Riga der Ermordung eines Mannes durch „Uniformierte“ habe zusehen müssen. Dieser Mann sei möglicherweise sein Vater gewesen. In einem Versteck in Polen sei er später verhaftet worden und in zwei Konzentrationslager gekommen. Nach der Befreiung sei er zunächst in ein Waisenhaus nach Krakau und dann in die Schweiz verbracht worden, wo er in jahrzehntelanger Nachforschung seine Vergangenheit rekonstruierte. Das Buch wurde in zwölf Sprachen übersetzt, den Autor verglich man mit Elie Wiesel und Anne Frank. Wilkomirski trat häufig vor Schulklassen, in Medien oder bei wissenschaftlichen Veranstaltungen zur Schoah auf, gab angesehenen Archiven Interviews und ließ sich im TV porträtieren. Zudem erhielt er für sein Werk bedeutende Preise. 1998 konfrontierte die „Weltwoche“ Wilkomirski mit Ausführungen des Schweizer Autors Daniel Ganzfried, einem Sohn „echter“ Holocaust-Überlebender, wonach Wilkomirski in Wahrheit Bruno Grosjean heiße und Konzentrationslager nur als Tourist kenne.
8. „Die „Zeit“ untersucht: Auch wenn Relotius behaupte, es sei „alles korrekt“ verlaufen, prüfe der Verlag, ob sechs in „Zeit online“ und „Zeit Magazin Wissen“ übernommene Geschichten mit Makeln behaftet sind.“
9. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wenn, wie die „Welt“ behauptet, Relotius auch für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ geschrieben hat, tritt die FAZ diesen Aspekt jedenfalls nicht breit, sondern zieht es vor, mit dem Finger umso nachdrücklicher auf den „Spiegel“ zu zeigen.
Für die FAZ (sowie auch für die „Süddeutsche“) schrieb übrigens seinerzeit der Schweizer Journalist Tom Kummer, der im Jahr 2000 einen medialen Fälschungsskandal auslöste. Damals hatte das Magazin „Focus“ enthüllt, dass Kummer Interviews mit Hollywood-Stars wie Charles Bronson, Brad Pitt und Sharon Stone erfunden hatte. Kummer argumentierte, dass er seine „Werke“ mit Wissen der Chefredakteure als „Kunstform“ verkauft habe. Nach mehrjähriger Pause erhielt Kummer 2005 von der Berliner Zeitung eine neue Chance. Später berichteten Tageszeitungen und die Fachpresse über erneute Plagiate.
10. „Deutsche Presse Agentur (dpa): Deutschlands größte Nachrichtenagentur mit Vertretungen in 100 Ländern der Welt, ließ Relotius für sich freiberuflich in Israel tätig werden. Einer seiner Korrespondentenberichte handelt von jenem Kino in Jenin, über das er neun Tage zuvor in der „Welt“ geschrieben hatte. Für die „Welt“ ist „auffällig“, dass die beiden Texte zu unterschiedlichen Zeitpunkten spielen…
11. „profil“-Herausgeber Christian Rainer teilt – unter sorgfältiger Vermeidung hässlicher Worte wie „Betrug“, „Fälschung“ oder gar „Fake“ – den Lesern seines im Besitz der Verlagsgruppe „News“ stehenden und mit großen Reichweitenverlusten kämpfenden Blattes mit, dass „derzeit kein Grund zur Annahme“ bestehe, dass es sich bei den fünf Relotius-Interviews im „profil“ um „manipulierte Gespräche“ handle, dass die Texte aber „gewissenhaft geprüft“ würden.
12. „Datum“: Bei den drei in diesem Wiener Magazin veröffentlichten Relotius-Texten handelt es sich laut „Datum“ um Zweitabdrucke. In der Chefetage spricht man Klartext: Der „Fall Relotius“ sei für die Branche ein Erdbeben mit noch nicht absehbaren Folgen. Und man tröstet sich damit, dass auch viele andere Medien trotz engmaschiger Qualitätskontrollen einem Betrüger aufgesessen sind. Man solle aber nicht „alle Reportagenschreiber in Geiselhaft nehmen“.
13. „Guardian“ und „Los Angeles Times“: Obwohl Relotius auf der Webseite der von ihm besuchten Hamburger Journalistenschule Arbeiten u. a. für den „Guardian“ erwähnt, hat die britische Zeitung nach ersten eigenen Angaben keine Hinweise, dass Relotius je für sie geschrieben habe, prüft aber noch. Auch an der von Relotius angeführten angeblichen Mitarbeit für die „Los Angeles Times“ bestehen mittlerweile Zweifel.
Relotius sei „vielleicht nur die Spitze eines Eisberges“, munkeln Medien mittlerweile. Wenige Tage nach Auffliegen der Affäre um den mittlerweile abgetauchten Hamburger Fälscher geriet der österreichische Schriftsteller Robert Menasse[1] in den Fokus der „Fake-News“-Jäger. Menasse fühlte sich offenbar berufen, Auschwitz für seine politischen Vorstellungen zu instrumentalisieren und Zitate zu erfinden – und dies auch noch als legitim zu rechtfertigen. Die „Welt“ wies Menasse nach, Zitate des früheren Kommissionsvorsitzenden des EU-Vorläufers EWG, Walter Hallstein, erfunden zu haben: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“, ließ Menasse den CDU-Politiker Hallstein in der FAZ im März 2013 sagen. Den Text hat er gemeinsam verfasst mit der Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Uni Krems, Ulrike Guérot. Das sei, so die Autoren, „ein Satz, den weder der heutige Kommissionspräsident noch die gegenwärtige deutsche Kanzlerin wagen würde auszusprechen. Und doch: Dieser Satz ist die Wahrheit.“ Mitnichten: Dieser Satz ist nicht die Wahrheit. Er ist schlicht erfunden. Dabei hatte der Historiker August Winkler bereits 2017 im „Spiegel“ angemerkt, dass sich mehrere vermeintliche Zitate Menasses nicht belegen ließen. Menasse schwieg dazu. Hielt weiter Lesungen, schrieb Essays, nahm Ehrungen entgegen. Weite Teile des linksliberalen Betriebs scheinen sich derzeit ohnehin im Kulturkampf gegen Rechts zu fühlen – seine Antennen sind darauf gerichtet, rassistische Äußerungen von Provinzverwaltungen aufzuspüren. Fälschungen im eigenen Lager? Nicht der Rede wert.
Als aber neuerdings die „Welt“ der Sache nachging, musste Menasse zugeben, geschwindelt zu haben. Laut „Welt“ würde ihn „das Wörtliche nicht kümmern“, wenn er seine Ideologie, Europas Nationalstaaten auflösen zu wollen, verbreite. In der Kronenzeitung führte Menasse aus: Die Zitate seien „nicht existent, dennoch korrekt“. Die Kritik an ihm bezeichnete er als „künstliche Aufregung“. Im Netz ging es daraufhin „rund“: Der Poster „Diokles“ stellte die Gegenfrage: „Die Bedeutung des Wortes ,Zitat‘ (als Beleg) lt. Duden: ,Wörtlich zitierte Textstelle‘. Somit ergeben sich für mich an Hr. Menasse folgende zwei Fragen: 1. Lügt der Duden? 2. Verbreitet der Duden Fake News?“ „Austriak“ erinnerte an den mittlerweile berühmten Ausspruch des gichtgeplagten EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker: „Wenn es eng wird, muss man lügen“. „Herwig Seidelmann“ resümierte: „Leuten wie Menasse ist es zuzuschreiben, wenn dem goldenen Zeitalter der Dichter und Denker einer Ägide der Richter und Henker folgte. Er möge sich aus dem ‚Kulturgeschäft’ heraushalten. Dabei kann man nicht einmal sagen ‚Dignitas delictum auget’ (lat. ‚die Würde – des Amtes – mehrt das Verbrechen’). Da ist weder Amt noch Würde. Nur dubiose ‚Staatspreise’. Ohne die er längst zum Sozialfall verkommen wäre.“
Geplant war, dass Menasse[2] am 18. Januar in Mainz die Carl-Zuckmayer-Medaille erhalten sollte. Denn er trete „für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“ ein, lobte ihn die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Der Preis umfasst neben der Medaille auch ein 30-Liter-Fass Nackenheimer Wein, den Lieblingswein Zuckmayers. Als die Staatskanzlei ankündigte, die Preisverleihung „zu prüfen und das Gespräch mit Menasse zu suchen“, bequemte sich Menasse wohl eilig zu einer Art Entschuldigung: Er habe ja darauf hingewiesen, Hallstein nicht wörtlich, sondern sinngemäß wiedergegeben zu haben, erklärte der Darling der Kulturschickeria in der „Welt“. Die Information zur angeblichen Hallstein-Rede in Auschwitz habe er bei seinen Recherchen für den Roman „Die Hauptstadt“ bekommen und ohne weitere Prüfung verwendet, „denn für Romane gelten andere Regeln als für Doktorarbeiten. Falls dieses Detail als historisches Faktum missverstanden wurde, tut mir das leid.“ Ende schlecht, alles schlecht: Menasse bekam den Preis trotzdem …
[1] Robert Menasse, Jahrgang 1954, ist gebürtiger Wiener und Halbbruder der Journalistin Eva Menasse (u. a. für „FAZ“ und „profil“. Sein Vater Hans Menasse überlebte die NS-Zeit wohl nur deshalb, weil er 1938 im Zuge einer britischen Rettungsaktion für jüdische Kinder nach England kam. Nach Studien (Philosophie und Politikwissenschaft) war Robert Menasse Lektor in Österreich und Gastdozent an der Uni São Paulo (Brasilien). Er ist, wie Relotius, Träger zahlreicher Auszeichnungen. In der „Zeit“ sagte Menasse übrigens zum Präsidentschaftswahlkampf in Österreich: „Norbert Hofer wäre eine Katastrophe nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa“.
[2] Laut einer Auflistung des BMUKK erhielt Menasse zwischen 2001 und 2011 Einzelförderungen und Abgeltungen von insgesamt 308.957,00 EUR. Auf zehn Jahre in Monatsraten umgerechnet ergäbe das ein durchschnittliches Monatssalär von 2.574 EUR brutto.
Bernd Stracke, Genius-Redaktionsleiter seit 1. Jänner 2015, hat es in seiner 50jährigen journalistischen Tätigkeit (seit 1969) – wie er meint: glücklicherweise – zu keinem Journalistenpreis gebracht. Er war von 1999–2015 allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Mediensachverständiger.