Von Wolfgang Schimank
Angela Merkel, Franziska Giffey, Frank-Walter Steinmeier und Maybrit Illner legten als Ostdeutsche im vereinten Deutschland in der Politik bzw. im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen großen Aufstieg hin. Oberflächlich gesehen wäre das ein Indiz dafür, dass auch die innere deutsche Einheit vollzogen wurde. Ich hatte mich als ehemaliger DDR-Bürger, wie viele meiner „Landsleute“, anfangs darüber sehr gefreut. Die Enttäuschung kam aber sehr schnell. Denn in ihrem Verhalten und ihren Aussagen kann ich nichts typisch Ostdeutsches erkennen. Meine Erklärung hierfür ist, dass diese Personen ihre Identität verleugneten, um möglichst schnell in der westdeutsch geprägten Gesellschaft aufzusteigen.
Ein ähnliches Phänomen erlebte ich bei dem Südtiroler Markus Lanz. Über seinen Aufstieg beim deutschen Fernsehen freute ich mich anfangs ebenfalls. Bei seinem ersten Auftritt ließ er eine Spitze fallen gegen die ethnischen Italiener, die in Südtirol leben. Doch dann haben ihm wohl seine Vorgesetzten die Leviten gelesen und die Marschrichtung vorgegeben. Seitdem kam keine Kritik mehr am Verhalten der in großen Teilen extrem nationalistisch/faschistisch orientierten Italiener in Südtirol bzw. Kritik an Roms Italianisierungs-Politik. Stattdessen verhält er sich jetzt vollkommen stromlinienförmig (staats- und Merkel-konform). Dabei hätte er im deutschen Fernsehen die Rolle eines Sprachrohrs übernehmen können, der nicht lautstark, eher dezent, immer wieder das Recht der Südtiroler auf Selbstbestimmung einfordert.
Die Ostdeutschen, insbesondere die, die in der DDR sozialisiert wurden, sind eher zurückhaltend, sozial, bodenständig, patriotisch, haben eine gute Allgemeinbildung, eine relativ gute Meinung von den Russen, sind misstrauisch gegenüber Medien und Politikern und wollen mehr demokratische Mitbestimmung auf allen politischen Ebenen. Diese Eigenschaften und Ansichten vermisse ich von den eingangs genannten Personen. Das hat mich auch veranlasst, über die Frage, ob Angela Merkel überhaupt eine Ostdeutsche sei, zu reflektieren.
Wie ich in meinem Buch „Ist Deutschland ein souveräner Staat?“ (S. 226 und 227) erläuterte, setzt sich die Identität eines Menschen gleich einer Zwiebel aus mehreren Schichten zusammen: aus der familiären, der sozialen, der regionalen und der nationalen. Diese können auch im Widerspruch zueinander stehen.
In der DDR der 1980er-Jahre haben sich schätzungsweise 25 bis 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung voll und ganz mit diesem Land identifiziert. 20 bis 30 Prozent waren mehr oder weniger Mitläufer, und 55 bis 30 Prozent wollten mit der DDR gar nichts zu tun haben. Das ist meine subjektive Einschätzung. Zur letzten Gruppe gehörten aktive Christen, vor allem Katholiken, diejenigen, die eine starke Bindung zur Westverwandtschaft hatten, Handwerker, eine kleine Schicht Intellektueller und vollkommen unpolitische Menschen. Die Mehrheit der DDR-Bürger fühlte sich als Deutsche, auch wenn sie in den sozialistischen „Bruderländern“ im Urlaub der Deutschen Mark wegen oftmals als Deutsche zweiter Klasse behandelt wurden. Mit der Wiedervereinigung wurden sie aber eines Besseren belehrt: Aufgrund vielfach erlebter Zurückweisung auf sozialer Ebene wurden sie sich ihrer ostdeutschen Identität erst bewusst. Die Geschichte ist viel wirkmächtiger als es sich die Menschen, die Politiker und die Ideologen eingestehen wollen. Selbst wenn sich alle ehemaligen DDR-Bürger nicht als Ostdeutsche begreifen sollten, so ist diese Identität unabhängig von ihrem Willen existent. Die Sozialisierung der Menschen in der Kindheit, in der Jugendzeit und auf der Arbeitsstelle war in der DDR eine andere als in der BRD. Ich würde die ostdeutsche und die westdeutsche Identität nach der Vereinigung beider deutschen Landesteile in die Kategorie „überregionale Identität“ einordnen. Denn, obwohl es die Mecklenburger, die Berliner und Brandenburger (Preußen), die Eichsfelder, die Anhaltiner, die Thüringer, die Sachsen und die Niederschlesier in der ehemaligen DDR gab, so hatten sie ein zentralistisch gelenktes gemeinsames Bildungs-, Kultur-, Rechts-, Sozial-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und politisches System, das permanent auf sie einwirkte. Selbst in der alten BRD gab es trotz föderalistischer Strukturen auch zentralistische und überregionale Systeme. Da Westdeutsche und ehemalige DDR-Bürger unterschiedlich sozialisiert sind, reagieren sie, angesprochen auf bestimmte Themen wie Helden aus der Jugendzeit, Märchen und Musik und Wahrheitsgehalt der Nachrichten von Leitmedien, emotional anders. Überschneidungen gibt es auch, da ein großer Teil der Ostdeutschen Westfernsehen geschaut und Westradio gehört hat. (Für einen seriösen Vergleich müssten Personen aus Ost und West der gleichen Altersgruppen befragt werden.) Prinzipiell bleibt festzuhalten: Je vertrauter die Gespräche zwischen Ost- und Westdeutschen sind, desto mehr wird ihnen in erschreckender Weise klar, was 40 Jahre Teilung eines Volkes mental angerichtet haben. Dieser Unterschied zwischen den Menschen aus Ost und West nimmt umso mehr ab, je jünger sie sind. Diese Entwicklung sehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es freut mich, wenn die jüngeren Menschen aus Ost und West nahezu ohne Vorbehalte aufeinander zugehen. Sie sind aber in der Minderheit. Was ich sehr kritisch und mit großer Sorge sehe, das sind die Abwärtsspirale bei der Allgemeinbildung und bei der Herausbildung von mündigen Bürgern sowie der zunehmende Russlandhass. Trotzdem, es gibt nach wie vor Unterschiede in der Mentalität. Gewiss werden den Kindern auch die einschneidenden Erfahrungen der Eltern und Großeltern mit der Treuhandgesellschaft und mit der Transformation der Gesellschaft in der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung weitergegeben.
Nach wie vor gibt es Schwierigkeiten bei der Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen. Mir ist öfters aufgefallen, dass im Gegensatz zu vielen Westdeutschen die Menschen in Südtirol und Österreich aufmerksam zuhören, wenn ich etwas über die DDR erzähle. Bei den Westdeutschen gibt es hingegen noch zu oft vorgefertigte und unumstößliche Meinungen. Überspitzt formuliert: Manche wussten es sogar besser als ich. Haben die Südtiroler und Österreicher mit den Ostdeutschen mehr gemeinsam als die Westdeutschen? Ich weiß, das ist eine provokative Frage. Ich habe mich schon als Jugendlicher sehr für die Geschichte interessiert. Irgendwann hatte ich zu Zeiten der DDR ein Historiker-Heft über die Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 gekauft und interessiert gelesen. Es war ein deutsch-deutscher Krieg. Dort standen einander die Truppen Preußens und die der k. u. k. Monarchie mit ihrem sächsischen Verbündeten gegenüber. Die Preußen hatten die Schlacht gewonnen und damit ihre Vormachtstellung im nördlichen deutschsprachigen Raum ausgebaut. Welche Schicksalswege wäre Deutschland gegangen, wenn die Truppen von Kaiser Franz Joseph und von Sachsen die Schlacht für sich entschieden hätten? Kaiser Franz Joseph I. hatte sich immer als deutscher Fürst verstanden. (Sein Bruder, Erzherzog Johann von Österreich, wurde 1848 in der Frankfurter Paulskirche zum Reichsverweser der gesamtdeutschen Nationalversammlung gewählt. Ich habe im Schloss Schenna bei Meran einen Gobelin-Wandteppich mit seinem Abbild mit schwarz-rot-goldener Fahne aus dieser Zeit gesehen). Wäre den Deutschen dann viel Kummer und Leid erspart geblieben?
Zurück zur deutsch-deutschen Realität, zu den Dissonanzen anno 2018! Wenn Martin Schulz, ehemaliger Präsident des EU-Parlaments und SPD-Kanzlerkandidat, verkündet, bis 2024 die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu errichten, beweist er damit seine Weltfremdheit, genauer gesagt, sein Unwissen, wie es um die deutsch-deutsche Befindlichkeit bestellt ist. Deutschland hat bis heute nicht seine innere Einheit vollzogen.
Mit und nach dem Fall der Mauer gab es sowohl im westlichen wie im östlichen Teil Deutschlands eine große Euphorie. Westdeutsche und Ostdeutsche lagen einander in den Armen. Als jedoch der Alltag einkehrte und in den neuen Bundesländern wirtschaftliche und gesellschaftliche Umstrukturierungen vorgenommen wurden, fühlten sich die Ostdeutschen oftmals zurückgewiesen, um die Früchte ihrer Arbeit gebracht, ihre Lebensleistung nicht anerkannt und zuweilen fremd im eigenen Land.
Gewiss, die Anerkennung der Lebensleistung bei der Rente und die nahtlose Eingliederung in das Sozialsystem waren zweifellos generös und sollten bei jedem ehemaligen DDR-Bürger große Dankbarkeit gegenüber den Westdeutschen auslösen. Das hätte kein anderer Staat in dieser Dimension stemmen können. Von der öffentlichen Hand wurden die Straßen in der ehemaligen DDR erneuert, das Telefonnetz modernisiert und Fördermittel bereitgestellt, um in Ostdeutschland im Bereich von Immobilien und Wirtschaft zu investieren. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, dass das Autobahnnetz in den neuen Bundesländern nur deshalb so zügig modernisiert wurde, damit NATO-Truppen schneller Richtung Osten vorrücken und Rohstoffe und Halbzeuge schneller aus Osteuropa zu den Betrieben in Westdeutschland geliefert werden können. Ob die damalige Bundesregierung so langfristig gedacht hatte, ist fraglich. Zumindest entspricht das dem heutigen Zustand. Wer zum Beispiel heute vom südlichen Berliner Autobahnring vom Westen aus Richtung Leipzig abbiegen will, muss damit rechnen, schon mehrere Kilometer vorher im Stau Hunderter polnischer Lkw auf beiden Fahrbahnen stehen zu müssen. Und ständig nutzen NATO-Militärfahrzeuge die ostdeutschen Autobahnen, um möglichst schnell an die Grenze zu Russland zu kommen …
Die Kehrseite der Aufbau-Ost-Aktionen ist, dass bei der Privatisierung der Betriebe und von Immobilien einiges schiefgelaufen ist. Am Anfang meines Buches habe ich die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandgesellschaft ausführlich geschildert. In der DDR gab es 167 zentralgeleitete und 90 bezirksgeleitete Kombinate. In einem Kombinat waren alle Betriebe einer Branche zusammengefasst. Jedes Kombinat hatte seine industriellen und technologischen „Leuchttürme“, worin viel investiert wurde, auch mit Devisen, und wo die modernsten Maschinen und Anlagen standen. Dass keiner dieser Betriebe die Privatisierung überlebt hat, ist mir bis heute ein Rätsel und zeigt mir, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Ehemalige DDR-Bürger hatten beim Kauf von volkseigenen Betrieben ohne Fürsprecher/Bürgen aus dem Westen keine Chance, auch wenn ihre Unternehmenskonzepte noch so brillant waren.
Am Beispiel der Privatisierung von Immobilien führt mir die Insel Rügen vor Augen, dass hierbei einiges aus dem Ruder gelaufen ist. An den Stränden stehen wunderschön renovierte Villen und Häuser im Bäderstil oder als Fachwerkhaus mit Reetdach (und die Grundstücks- und Immobilienpreise sind an der Ostsee explodiert), während im Inneren der Insel vieles noch wie zu Zeiten der DDR aussieht. Ich empfehle jedem Interessierten, der Rügen mit dem Pkw anfährt, die Fernverkehrsstraße B96 zu verlassen und die Straßen durch das Landesinnere zu befahren. Die Besitzverhältnisse in den Orten, die sich direkt an der Ostseeküste befinden, haben sich dramatisch verändert. In Binz gehören von 13.000 Immobilien 46 Prozent Ostdeutschen, 52 Prozent Westdeutschen und zwei Prozent Ausländern. Auf die ganze Ostseeküste bezogen gehören im Schnitt mehr als 50 Prozent der Immobilien nicht mehr den Ostdeutschen. Auf der Halbinsel Usedom im ehemaligen Kaiserbad Heiligendamm gibt es einen ganzen Komplex von Häusern, den ein einziger westdeutscher Immobilienhändler erworben hat. Teilweise sind die Immobilien bis heute nicht renoviert. Der Besitzer ließ ein großes Areal für den öffentlichen Verkehr sperren, sodass die Leute vom Bahnhof kommend einen großen Umweg in Kauf nehmen müssen, um zum Strand zu kommen. Helmut Kohl hatte mit Sonderabschreibungen für Immobilien im „Osten“ westdeutsche Finanziers anlocken wollen. Wer zum Beispiel eine Million DM in den Osten investierte, der durfte 500.000 DM von der Steuer absetzen. Die Bürger konnten in der DDR keine großen Reichtümer anhäufen. Insofern waren sie nach der Wende auf den falschen Fuß erwischt worden und konnten beim großen „Monopoly“ um Grundstücke, ja selbst bei der Bezahlung der rapide angestiegenen Mieten finanziell nicht mithalten. Hinzu kommt noch die Regelung, dass nach bundesdeutschem Recht keine Bauten auf fremden Grundstücken stehen dürfen. Insofern haben viele Ostdeutsche in gewisser Weise schon ihre Heimat verloren. Die ehemaligen DDR-Bürger waren davon ausgegangen, dass man Heimat nicht kaufen und verkaufen kann. Welch ein Irrtum! Die Treuhandgesellschaft hat nicht nur Betriebe und Immobilien, sondern auch Wälder, Felder, Wiesen, Seen und Inseln meistbietend verkauft. In den letzten Jahren habe ich beobachtet, wie in den Wäldern nördlich von Neuruppin, die offenbar privatisiert wurden, getreu dem Motto von Erich Honecker „Aus dem Betrieb ist noch mehr herauszuholen!“, ein Kahlschlag sondergleichen stattfindet. Meine Tante und mein Onkel, die bei Stendenitz (nördlich von Neuruppin) ein Grundstück haben, beklagen, dass der sie umgebende Wald so ausgedünnt worden ist, dass dieser keinen Wind mehr abhält und sie dort keine Pilze und Blaubeeren mehr finden.
In der Schule, in einer der ersten Klassen, haben die Schüler/Jungpioniere ein wunderschönes Lied gelernt, das die große Liebe zur Heimat ausdrückt. Die heutige Situation, auch die emotionslose Erziehung der Jugend in Sachen Heimatliebe empfinde wahrscheinlich nicht nur ich als ein Kontrastprogramm, als einen Hohn. Sicherlich werden sich die Machthaber in der DDR auch gedacht haben, wer seine Heimat liebt, der wird sie auch verteidigen. Ich denke, dass es aus diesem Grund auch Pionierlager gab, die beides miteinander verbanden. Aber wer ist denn heute bereit, sein Heimatland, sein Vaterland zu verteidigen? Das sind eher die patriotisch gesinnten Ostdeutschen als die Westdeutschen! In diesem Zusammenhang ist mir dieses Lied eingefallen:
Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat. Und wir lieben die Heimat, die schöne und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.[1]
Mein Vater war Ende der 1990er/Anfang 2000 Bürgermeister eines Dorfes im Spreewald. Er ließ am Rande eines Feldweges mehr als 20 hochstämmige Obstbäume pflanzen. In kürzester Zeit waren alle Bäume geköpft worden. Mein Vater war darüber schockiert. Das hatte es in der DDR-Zeit nicht gegeben. In meinem Buch beschrieb ich auch, wie sich das Bild in den Dörfern wandelte. Einerseits wurden ein Teil der Wohnhäuser und der Straßen restauriert, andererseits gab es vielerorts keinen Dorfkonsum, keine Dorfkneipe, keinen Jugendclub, keine Postaußenstellen und Briefkästen und keinen Dorfarzt mehr. Auch die sogenannte Dorflinde, einst Mittelpunkt des lokalen Lebens, wie sie im Lied von 1838 „Kein schöner Land in dieser Zeit“ besungen wird, verschwand aus vielen Dörfern der neuen Bundesländer. Ebenso die Kopfweiden, die das dörfliche Bild prägten. Durch Stilllegeprämien der EU wurden große, einst mühsam urbar gemachte Ackerflächen sich selbst überlassen. Stattdessen verunzieren jetzt vielerorts Windräder die Landschaft. Das Bild der Dörfer hat sich nach der Wende in den neuen Bundesländern also nicht unbedingt gebessert.
Die in der DDR den Kindern anerzogene Liebe zur Heimat steht natürlich im Widerspruch zur oftmals von Betrieben praktizierten Umweltverschmutzung. Ich denke, dass von staatlicher Seite der Wille da war, mehr für die Umwelt zu tun, aber oft schlichtweg die Gelder nicht da waren oder die notwendige Technologie fehlte.
In den neuen Bundesländern entstanden an mehreren Stellen zweifellos „blühende Landschaften“. Es gibt aber auch große deindustrialisierte Flächen und brachgelegte Eisenbahnschienennetze. Im Land Brandenburg sind es zum Beispiel die Prignitz, Gebiete zwischen Berlin und Frankfurt (Oder) und die Niederlausitz, wo so gut wie keine Industrie mehr existiert, und wo nach wie vor eine Bevölkerungsabwanderung größeren Ausmaßes stattfindet.
Der „Spiegel“ hatte in den 1990er-Jahren noch versucht, möglichst dicht an die Wahrheit heranzukommen und relativ realistisch über die Privatisierung ehemaliger volkseigener Betriebe der DDR geschrieben. Allerdings übernahm er kritiklos die Aussagen von Treuhandmitarbeitern und Politikern der Bundesregierung, wonach alle Betriebe in der DDR Schrott seien. Damit bekamen die ehemaligen DDR-Bürger neben dem Verlust ihrer Arbeit noch einen zusätzlichen moralischen Nackenschlag. Als täglich in den neuen Bundesländern Betriebe geschlossen wurden, kam vom Westen keine Solidarität. Vielmehr wurde lakonisch angemerkt, so sei der Kapitalismus, was soll das Gejammer! Das sind jene Zurückweisungen, die dazu führten, dass sich ehemalige DDR-Bürger ihrer ostdeutschen Identität bewusst wurden.
Von Westdeutschland nach Ostdeutschland floss im Laufe der Zeit sehr viel Geld. Dafür sollten die Ostdeutschen den Westdeutschen äußerst dankbar sein. Viele Projekte im Westen konnten dadurch nicht realisiert werden bzw. wurden zeitverzögert und langsamer oder nur in abgespeckter Form in Angriff genommen. Allerdings ist der Unmut der Westdeutschen über die Unzufriedenheit der Ostdeutschen nur sehr bedingt gerechtfertigt: Die ehemaligen DDR-Bürger wollten keine sozialen Zuwendungen, sondern selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Das hat etwas mit Selbstachtung zu tun. Stattdessen hatte die Treuhandgesellschaft viele ehemalige DDR-Bürgern entlassen und ihre Betriebe liquidiert. So mancher westdeutsche Glücksritter kaufte einen oder mehrere Betriebe nur der Grundstücke wegen. Bereits 1992 schrieben Prof. Sinn und seine Frau gemeinsam das Buch „Kaltstart; Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung“ und kritisierten die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern. So schrieben sie im Vorwort:
„Sechzehn Millionen Menschen, die nach dem Untergang des Faschismus in die Fänge eines anderen totalitären Systems gerieten, die dort vierzig Jahre festgehalten wurden und die sich dann in mutiger Aktion losrissen, haben mehr verdient als eine Konkursverwaltung mit Sozialplan. Die Fehler und Versäumnisse der Wirtschaftspolitik sind so gravierend, dass nachhaltige Folgen für den sozialen Frieden in Deutschland erwartet werden müssen, wenn nicht bald eine Umbesinnung erfolgt.“[2]
Das waren weise Worte, die aber von der Bundesregierung und der Treuhandgesellschaft nicht gehört wurden. Die Folgen dieser Politik wirken bis heute nach.
Die größten Fehler bei der Bewertung der Geschichte der DDR
Die größten Fehler der westdeutsch dominierten Leitmedien, der Bundespolitiker der etablierten Parteien und ihrer Parteistiftungen bei der Beurteilung, wie das Leben in der DDR wirklich war, sehe ich darin:
Wenn wirklich alle Vorgaben der SED-Funktionäre von oben nach unten durchgezogen worden wären, gäbe es in der DDR Verhältnisse wie in Nordkorea. Dem ist aber nicht so. Es gab dort gewisse Freiräume, die vielen mutigen, heutzutage unbekannten Menschen zu verdanken ist. Ich denke da auch an ein Novum auf meiner Arbeit in den Elektro-Physikalischen Werken Neuruppin: Weder mein Gruppenleiter, Abteilungsleiter noch Bereichsleiter waren Mitglieder in der SED! Dabei war die Grundbedingung für einen Führungsposten die Mitgliedschaft in der SED. Die Elektroniker waren anscheinend ein Hort von Freidenkern, wo die SED nichts ausrichten konnte.
Ich möchte noch ein zweites Beispiel anbringen: Die Tatsache, dass tausende Jugendliche an Veranstaltungen zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 4. Oktober 1989 teilnahmen, wurde von der DDR-Führung medial ausgeschlachtet. Ähnlich lief es bei der Veranstaltung „Wir sind mehr“ (Konzert gegen rechts) am 3. September 2018 in Chemnitz ab. Sicherlich waren einige politisch Überzeugte dabei. Aber wer etwas an der politischen Fassade kratzt, kommt auf ernüchternde Gemeinsamkeiten beider politisch hochstilisierten Ereignisse: Die Fahrten zu den Veranstaltungen, die Getränke und der Besuch von Konzerten waren kostenlos! Sicherlich hatten 1989 das Bildungsministerium unter Margot Honecker und 2018 das Familienministerium unter Franziska Giffey die Kosten übernommen. Das Gros der Teilnehmer wird allein aus diesen Gründen an beiden Veranstaltungen teilgenommen haben. Bei den Medien und den Politikern hörte es sich ganz anders an. Als mündiger Bürger sollte man sich schon überlegen, ob man sich politisch ausnutzen lassen will. Auf der Veranstaltung in Chemnitz wurden von einigen Bands hemmungslose Gewaltfantasien verbreitet, die rein gar nichts auf einer Gedenkfeier eines von einem Flüchtling erstochenen Deutsch-Kubaners zu suchen haben. Da hätte ich von den Zuschauern ein Pfeifkonzert und von den Medien und Politikern eine Distanzierung erwartet…
Zurück zu der ostdeutschen Identität. In Ostdeutschland ist der Patriotismus aus folgenden Gründen verbreiteter als in Westdeutschland:
Abschließend möchte ich ein Lied aus meinem DDR-Liederbuch aus dem Jahre 1970 zitieren, dessen Inhalt so manch einen linksgrünen Ideologen erschaudern lässt und die ganze Irrsinnigkeit des von der Bundesregierung und den Medien verbreiteten Zeitgeistes offenlegt:
Heimatlied[3]
Wenn ich an Deutschland denke, dann geht das Herz mir auf. Ich liebe seine Wälder und seiner Flüsse Lauf.
Ich liebe die deutsche Sprache, das alte ew´ge Band, das uns zusammenschmiedet, im deutschen Vaterland.
Ich liebe die stolzen Werke, erbaut aus eigner Kraft, der Gruben tiefe Schächte, und unser Volk, das schafft.
Ich liebe unser Deutschland, ob Elbe, Spree, ob Rhein, es darf auf lange Dauer niemals gespalten sein.
Und weil ich es so liebe, hass ich des Krieges Brand und kämpfe für den Frieden, und kämpfe für den Frieden, in meinem Vaterland.
Worte: Erich Freund Musik: Ernst Hermann Meyer
Damit möchte ich nicht das Trennende zwischen Ostdeutschen und den Westdeutschen zelebrieren, sondern es unverfälscht von den Bundespolitikern, ihren parteinahen Stiftungen und den Medien ausbreiten. Denn würden ARD und ZDF mein Buch empfehlen, hätte ich etwas falsch gemacht. Ich möchte insbesondere an die Westdeutschen appellieren, vorbehaltlos den Kontakt mit den Ostdeutschen zu suchen und sich nicht auseinanderdividieren zu lassen.
[1] https://www.youtube.com/watch?v=sWPl94rpKrI, DDR-Kinderlied „Unsere Heimat“
[2] Gerlinde und Hans-Werner Sinn, „Kaltstart; Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung“, Vorwort, Seite IX bis X, Beck-Wirtschaftsberater im dtv, 3. überarbeitete Auflage, ISBN 978–3-406-37095-3
[3] „Fröhlich singen, vorwärts schauen“, 9. und 10. Klasse, Volk und Wissen, Volkseigener Verlag Berlin, 1970, Seite 12 bis 14