Von Wolfgang Caspart
Richtet sich eine Revolution gegen Verhältnisse, die selbst durch eine Revolution zustande gekommen sind, so spricht man von einer Konterrevolution. Mittlerweile leben wir in Zuständen, die selbst auf Revolutionen oder Umstürzen beruhen. Ihre Anhänger sind mächtig stolz auf ihre revolutionäre Herkunft, Entwicklung und Zielrichtung. Sobald freilich die Revolutionäre selbst am Ruder sind, fürchten die Parteigänger des Umsturzes nichts mehr als die Konterrevolution. Wenigstens darin sind sich liberale Demokraten, die verschiedensten Marxisten, globalistische Kapitalisten und egalitäre Antikapitalisten völlig einig. Quasi „konservativ“ geworden, wollen sie um alles in der Welt ihre Besitzstände erhalten und wettern gegen alles, was sie gestürzt haben und wirklich erhaltenswert war, ist und bleiben wird.
Revolutionäre wollen den neuen Menschen schaffen, sonst wären sie nicht das, was sie sind. Konterrevolutionäre halten sich dagegen an das, was immer gilt. Umstürzler waren und sind mit dem unzufrieden, das sie vorgefunden haben oder vorfinden. Auch Konterrevolutionäre leiden nicht minder unter dem, was sie vorfinden und als Unrecht empfinden, also an dem, was die alten Revolutionäre angerichtet haben. Die heutigen Revolutionen beginnen mit der gleichmacherischen Humanitätsvorstellung des 18. Jahrhunderts. Ihr „wage zu denken“ sprechen sie Andersdenkenden ab und ersetzen den Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant 1784) durch ihre eigene selbstverschuldete Unmündigkeit.
Der pseudorationalen Reduktion auf einen scheinvernünftigen Positivismus und mechanistischen Atomismus ist wieder ein ganzheitliches Menschenbild mit seinen metaphysischen Grundkomponenten und Implikationen entgegenzustellen. Den allen Revolutionären gemeinsamen Materialismus gilt es einen konsequenten Idealismus entgegenzuhalten. Naturrecht und Ethik haben den das heutige Sozialleben prägenden Rechtspositivismus abzulösen und zu ergänzen. Die ungeschriebenen Gesetze der allgemeinen Sittlichkeit haben Vorrang vor einer dem Pöbel nachlaufenden und ihn bestechenden Rechtsetzung, die von den willkürlichen Interessen und schwankenden Begehrlichkeiten des vulgus mobile dominiert wird. Ein fundamentaltheologisches Verständnis muss die Religionsfeindlichkeit und den öffentlich geförderten Atheismus ablösen. Der integrative Volkstumsbegriff (Rassem 1979) ersetzt die klassenkämpferischen Konflikttheorien.
Das dekadente Gendermainstreaming, wonach die biologischen Geschlechter und ihr Verhalten bloß soziologisch zu verstehen wären, wird durch ein partnerschaftliches Verhältnis ersetzt. Die Geschlechter sind keine Gegner, sondern zueinander programmiert. Abtreibungen dürfen nur aus medizinischen Gründen zugelassen werden. Queer-Propaganda und Perversitäten gehören verboten und unter Strafe gestellt. Die klassische Ästhetik muss den Kult des Hässlichen (Marinovic 1995) verdrängen. Kultur geht vor bloße Zivilisation. Geschichte und Tradition geben Orientierung in unklaren Situationen und schützen vor Dekonstruktivismus. Heimatliebe erwächst aus der Nächstenliebe und geht einer internationalistischen Fernstenliebe vor. Die Pietät den Ahnen gegenüber festigt den menschlichen Zusammenhalt – die Verstorbenen, die jetzt Lebenden und die Nachkommen bilden eine Einheit.
Der Terror ist die logische Konsequenz noch jeder Revolution gewesen. Was üblicherweise im Namen des Volkes inszeniert wird, hat mit den vielen Einzelnen, die ihm angehören, reichlich wenig zu tun (Maistre). Der Einzelne gilt nichts, außer man will seine Stimme haben. Eine offene und natürliche Autorität ist für ein reibungsloses Zusammenleben aufrichtiger und allen Versuchen vorzuziehen, dem Volk vorzugaukeln, es könne mitreden. Nicht die Illusion, dass das Volk immer klüger, gebildeter und belesener wird, um bei allem mitzureden, ist für das soziale Leben wichtig, sondern Fleiß, Moral und Disziplin. Es ist die Aufgabe aller staatlich und gesellschaftlich Verantwortlichen, die Menschen nach transzendentalen sittlichen Grundsätzen zu leiten, aber nicht ihren einzelnen Egoismen nachzulaufen.
Politik baut immer schon auf bereits anwesende und notwendige Grundlagen auf und muss es auch weiterhin. Gödels (1931) Unvollständigkeitstheorem geht mathematisch und naturwissenschaftlich in dieselbe Richtung, dasselbe gilt in der Synergetik (Haken 1983). In diesem Sinne metapolitisch schließt jede große politische Frage zugleich auch eine große theologische Frage in sich ein (Cortés 1851). Politik trägt demnach immer einen religiösen Charakter und hat dies sogar im Anspruch der demokratischen Zivilreligion anerkannt. Damit stellt sich die Frage nach einer theologischen Religion oder Ersatzreligionen. Wird eine Politik nach dem Postulat einer ideologischen Grundlage nicht transzendental überhöht, wird sie ersatzreligiös und erhält in der Regel einen säkularen, agnostischen oder atheistischen Charakter. Mit der Französischen Revolution tritt das willkürlich entscheidende Volk an die Stelle Gottes. Die Realität wird durch die Gewaltenteilung ersetzt. Daraus folgen das allgemeine Wahlrecht in den modernen Demokratien und ein grundlegender Wandel des Rechtsbewusstseins zu Gunsten des Ochlos ( Pöbels).
Staat und Gesellschaft haben sich an einer funktionierenden Familie zu orientieren, aber nicht an „Sozialmechanismen“. Die liberale Ideologie der entscheidungslosen Diskussion übersieht, dass jedes Gespräch ein Fundament voraussetzt, das nicht selbst zur Diskussion stehen dürfe, um nicht zu einem fruchtlosen Geschwätz zu verkommen. Wer alle politische Aktivität ins Reden verlegt, in Presse und Parlament, ist keinen politischen Auseinandersetzungen gewachsen. Die Negation der menschlichen Unzulänglichkeit kann im Zeitalter des Legitimitätsverlustes und der Revolutionen nur den Nihilismus der modernen Welt zur Folge haben. Der sozialistische Versuch, das Paradies auf Erden zu errichten, macht aus ihr nur eine Hölle. Um die Diktatur des keine Werte mehr anerkennenden Pöbels aufzuhalten, bedarf es einer natürlichen Autorität auf metaphysischer Grundlage. Staat und Religion sind wiederzuvereinen (Spaemann 1998).
Jede Revolution beseitigt oder entmachtet die bisherige führende Schicht und etabliert ihre eigene (Mosca 1895). Bei der Französischen Revolution, den bürgerlich-demokratischen Revolutionen, der russischen Revolution und dem Nationalsozialismus lässt sich dies immer wieder beobachten. Dabei kamen und kommen die Betreiber der Revolutionen nie aus den Unterschichten, allerdings verschlingt die neu entstandene „Elite“ oft ihre ursprünglichen Erfinder, Entwickler und Betreiber, die Revolution frisst dann ihre eigenen Kinder (Büchner 1835). Erst die in die Nomenklatura Aufgestiegenen genießen die Früchte ihrer Revolution (Voslensky 1987). Um mit der revolutionären Dekomposition abzurechnen, erwachsen die Kader der Konterrevolution aus der frustrierten Mittel- und Oberschicht.
Das „eherne Gesetz der Oligarchie“ herrscht unabhängig von der jeweiligen Formalverfassung, was immer auch die Revolutionen und Umwälzungen vorgegeben und behauptet haben (Michels 1911). Es kommt zum Kreislauf der Eliten, die Geschichte wird zu ihrem Friedhof und neue Führungsschichten verdrängen die alten (Pareto 1916). Das einfache Volk herrscht auch in der Demokratie nie, vielmehr wird es zum bloßen Spielball ihrer kulturfeindlichen Revolutionsführer. Genauso können sich die Protagonisten der Gegenrevolution nicht aus den Unterschichten rekrutieren, auch wenn diese unter den Fehlleistungen der umstürzlerischen Kanaille vielleicht am meisten zu leiden haben.
Ohne Macht lässt sich nichts machen, weder für die dekadenten Machthaber, noch für die aufbegehrenden Konterrevolutionäre. Schon der Wiederentdecker der (direkten!) Demokratie stellte im 3. Buch, 15. Kapitel seines berühmten Buches (Rousseau 1762) fest: „Die Abgeordneten des Volkes sind … nur seine Bevollmächtigten und dürfen nichts entscheidend beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig; es ist kein Gesetz. Das englische Volk wähnt frei zu sein: es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist Nichts.“ Wahlen genügen, und ansonsten bleibt man im „closed shop“ des scheinaristokratischen Parlamentarismus. Von der Demokratie bleibt nur ein schöner Schein (Arnim 2002), ihre konterrevolutionäre Beseitigung würde der breiten Masse keineswegs schaden.
Im 4. Kapitel des 3. Buches des „Contrat social“ hält Rousseau die Demokratie sogar eher für eine Staatsform für Götter, aber nicht für Menschen. Sie setzt erstens einen kleinen Staat voraus, in dem jeder Bürger genügend Gelegenheit hat, alle anderen kennenzulernen. Zweitens „eine große Einfachheit der Sitten“, die keine Veranlassung zu vielen schwierigen Arbeiten und Verhandlungen gibt. Und drittens „eine fast vollkommene Gleichheit in Bezug auf Stand und Vermögen“, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte. Die angeblich so demokratischen supranationalen Zusammenschlüsse und erst recht die „world democracy“ entlarven sich in ihren inneren Widersprüchen selbst, ihnen geht es in Wahrheit nur um Macht, Geld, Prestige und Einfluss für eine Minderheit. Die Konterrevolution hat also keinen Grund, dem propagierten Liebkind des Internationalismus eine Träne nachzuweinen.
Ein Melting Pot an Multikulturalität und Völkergemisch kommt den revolutionären Ambitionen am weitesten entgegen, weshalb er durch Migrationsbewegungen künstlich immer weiter forciert wird. Gewachsene Strukturen lassen sich durch Wanderungsbewegungen am besten zerstören und in einem globalen Schmelztiegel auflösen. Die heutigen Revolutionäre erstreben eine weltweite Einheit von Produzenten und Konsumenten. Deshalb wollen sie die störenden Schranken noch existierender Kulturen, Völker und Strukturen beseitigen und einreißen. Damit steht aber zugleich fest, welche Gegenstrategien die Konterrevolution einschlagen muss: eine Wiederbelebung und Stärkung aller Kulturen, Völker und autonomen Strukturen Europas und dieser Welt, um es kurz zu fassen.
Die Lieblingsprojekte und materialistischen Ansichten der Revolution wird die Konterrevolution zu zerschlagen haben und an die Stelle der Destruktion idealistische Sittlichkeit und Natur setzen. Alles, was europäische Kultur zerstört und krank gemacht hat, muss selbst vernichtet werden. Die Strategie der revolutionären Zersetzung erzwingt jetzt ihren umgekehrten Einsatz gegen die Zersetzer selbst. Der gegenrevolutionäre Kampf um die Wiederherstellung der kulturellen Hegemonie in Medien, Universitäten, Schulen, Theater, Film, Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu deren Namen ist unausweichlich (Gramsci bis 1937), um darauf folgend die politische Macht zu erringen. Aller Welt ist klar, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und darf. Dies ist als Klassenkampf gegen die heute noch regierende Klasse zu verstehen. Erleichtert wird dieser Kampf durch das offensichtliche Versagen der jetzigen politischen Klasse, welches schon in der Gegenwart festzustellen und für die Zukunft noch mehr zu erwarten ist.
Hans Herbert von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei. Um ein aktuelles Nachwort erweiterte vollständige Taschenbuchausgabe. Verlag Droemer Knaur, München 2002.
Georg Büchner: Dantons Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. 1. Auflage, Frankfurt am Main 1835, Seite 41.
Juan Francisco Maria de la salud Donoso CORTÉS: Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus. Zuerst 1851. Herausgegeben und übersetzt von Günter Maschke. Wiley-VCH Verlag,Weinheim 1989.
Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. In: Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, S. 173–198.
Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Bis 1937. Herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, 10 Bände, Band 2. Argument Verlag, Hamburg 2012 (Taschenbuchausgabe), S. 374.
Hermann Haken: Advanced Synergetics (Dt. „Fortgeschrittene Synergetik“). Springer Verlag, Berlin 1983.
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. Zuerst 1784. Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Band VIII. Verlag Reimer, Berlin 1912. Reprint Verlag de Gruyter, Berlin 1968.
Joseph Marie Comte de Maistre: Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung. Zuerst 1821. Hrsg. v. Jean-Jacques Langendorf und Peter Weis. Karolinger Verlag, Wien 2008.
Walter Marinovic: Diktatur des Hässlichen. Kulturpolitik heute. Leopold Stocker Verlag, Graz 1995.
Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Zuerst 1911. 4. Auflage, herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Frank R. Pfetsch, Kröners Verlag, Stuttgart 1989.
Gaetano Mosca: Elementi di scienza politica (Dt. „Die Herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft”). Zuerst 1895. Mit einem Geleitwort von Benedetto Croce, übersetzt von Franz Borkenau. A. Francke Verlag, Bern 1950.
Vilfredo Pareto: Allgemeine Soziologie. Zuerst 1916. Übersetzt von Karl Brinkmann, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 1955; Neuauflage FinanzBuchVerlag, München 2005.
Mohammed Rassem: Die Volkstumswissenschaften und der Etatismus. Zweite, um einen Anhang vermehrte Auflage. Mäander Kunstverlag, Mittenwald 1979.
Wilfried Röhrich (Herausgeber): Demokratische Elitenherrschaft. Traditionsbestände eines sozialwissenschaftlichen Problems. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975.
Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Zuerst 1762. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel. Verlag Reclam, Stuttgart 1998.
Robert Spaemann: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L.G. A. de Bonald. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998.
Michael Voslensky: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion in Geschichte und Gegenwart. 3., aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Nymphenburger Verlag, München 1987.
(Als „Wie Europa noch zu retten ist“ ohne Literaturnachweis in: „Zur Zeit“ 32–33/2018, Verlag Zur Zeit, Wien August 2018, S. 38-40.
Als „Konterrevolution – wie Europa noch zu retten ist“ in: „Neue Ordnung“ III/2018, Ares Verlag Graz 2018, S. 6–7.)