Massenmigration als Waffe – Vertreibung, Erpressung und Außenpolitik


Kelly M. Greenhill, Kopp Verlag, Rottenburg, 2. Auflage August 2018, ISBN 978-3-86445-617-6, 358 Seiten plus umfangreicher Anhang von 70 Seiten

 
Eine Buchbesprechung von Bertram Schurian

Ein Flüchtling ist etwas Besonderes, zehn Flüchtlinge sind langweilig, hundert Flüchtlinge eine Bedrohung. Unter dieses Motto hat die Autorin ihre Studie gestellt. Und diese hat es in sich!

Schon in der Einleitung berichtet sie, wie der libysche Staatschef al-Gaddafi eine gewiefte Form der Erpressung gegenüber der Europäischen Union nutzte, der die absichtliche Herbeiführung, Beeinflussung und Ausnutzung von Migrantenströmen aus Nordafrika zugrunde lag. Und hier wird auch sehr detailliert erklärt, auf welche Weise, mit welchen Methoden und warum gerade die westlichen Demokratien anfällig für dergleichen Erpressungstaktiken sind.

Wenn man mitbekommen hat, was sich in Europa im Herbst 2015 und gerade auch in Deutschland und Österreich abgespielt hat, als am Münchner Hauptbahnhof fröhliche Menschen „Refugees Welcome“-Schildchen hochhielten und bunte Luftballons in den Himmel stiegen, glaubte man eine kollektive Willkommentrance wahrzunehmen. Inzwischen hat sich diese Trance in ihr Gegenteil gekehrt (Eine gute Beschreibung der Situation in Deutschland im Jahre 2015, als die Regierung Merkel mit der „Flüchtlingsproblematik” konfrontiert wurde, gibt übrigens auch Robin Alexander in seinem Buch „Die Getriebenen” ISBN 978 3 82750093 9).

In Greenhill`s Buch wird akkurat nachgezeichnet, wie es zu einem solchen Spektakulum in einem hochzivilisierten Land kommen kann, und welche Grundstrukturen dieser Entwicklung zugrunde liegen. Es geht also, wie schon im Titel der Studie vermerkt, einfach um Vertreibung, staatliche Erpressung und Erpressbarkeit und um Außenpolitik, die vordergründig mit Menschlichkeit argumentiert, jedoch in vielen Fällen wenig bis nichts damit zu tun hat. Die Autorin identifiziert in diesem Buch allein für den Zeitraum seit Inkrafttreten der Flüchtlingskonvention 1951 mehr als sechsundfünfzig Fälle/Versuche von migrationsgestützter Nötigung, von denen rund drei Viertel der Fälle das beabsichtigte Ziel ganz bzw. teilweise erreichten. Zudem legt sie auch eine Erklärung dafür vor, wie, weshalb und unter welchen Umständen diese Art von Nötigung erfolgreich ist und wann sie misslingt.

Bei migrationsgestützter Nötigung werden den Opferländern durch Androhung und den Einsatz „demografischer Bomben“ gewaltige Kosten auferlegt, um ein Ziel zu erreichen, das mit militärischen Mitteln niemals zu erreichen wäre, wie Albanien gegenüber Italien und Griechenland auf eindrucksvolle Weise bewiesen hat. Die Methode führt deshalb häufig zum Erfolg, weil sie internationale und interne Interessen eines Staates miteinander verknüpft und dessen interne normative und politische Tugenden in internationale Verhandlungsschwächen verwandelt.

Im Detail ist dies im umfangreichen Anhang nachzulesen. Aus zwei Gründen folgt daraus, dass liberale Demokratien besonders anfällig für die Auferlegung von Kosten der Heuchelei und für migrationsgestützte Nötigung sind.

Die auf Wettbewerben basierende, pluralistische und transparente Gestaltung der Politik macht es den potenziellen Angreifern leicht, das Vorhandensein und das Ausmaß eines politischen Disputs oder Konsenses in einem Staat zu bewerten, die wahrscheinlichen Reaktionen auf einen gegebenen Zustrom von Migranten einzuschätzen und folglich zu beurteilen, wie groß die vermutliche Handlungsfreiheit der Politik ist, auf eine Krise zu reagieren.

Da Demokratien mit größerer Wahrscheinlichkeit über juristisch festgelegtes Menschenrecht und migrationsbezogene Verpflichtungen verfügen als ihre Gegenspieler, sind sie entsprechend anfälliger für Vorwürfe der Heuchelei, wenn sie versuchen, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die solchen Verpflichtungen widerspricht.

Staatserpressung ist die Praxis – durch den Einsatz von Drohungen bzw. Einschüchterungen (am häufigsten durch militärische Macht) – um Veränderungen im politischen Verhalten herbeizuführen oder zu verhindern. In diesem Buch liegt der Nachdruck auf einer ganz besonderen nichtmilitärischen Methode, durch Erpressung Druck auszuüben – dem Einsatz von Migrations- und Flüchtlingskrisen als Instrumente der Beeinflussung. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass diese Methode selten erfolgreich ist. Die gängige Praxis weist jedoch in eine andere Richtung. Die Anwendung dieses Druckmittels wird nicht nur viel häufiger versucht als die herrschende Lehrmeinung nahelegt, sondern führt auch viel häufiger zum Erfolg, als es die auf den Fähigkeiten der Aggressoren basierenden Theorien prognostizieren.

Die Autorin widmet das erste Kapitel des Buches drei zentralen Fragen und ihrem jeweils besonderen Zweck:

  • Wie oft wird gesteuerte Migration zur Zwangsausübung eingesetzt?
  • Wie oft funktioniert sie?
  • Wie und weshalb funktioniert sie?

Nachdem die Häufigkeit gezeigt, die Wirksamkeit untersucht und eine Erklärung dafür gefunden wurde, unter welchen Bedingungen sie wahrscheinlich funktioniert, wird in den folgenden vier Kapiteln überprüft, ob sich der Kausalmechanismus überprüfen und empirisch belegen lässt. Dazu wird eine Vielzahl an Primär- und Sekundärquellen verwendet. Es wird die aufgestellte Theorie anhand ihrer eigenen Maßstäbe und gegenüber plausiblen Alternativen überprüft. Jede gute Theorie stellt nicht nur eine Beziehung her zwischen zwei Variablen, sondern folgt auch einer kausalen Logik, die erklärt, warum diese Hypothese existiert. Um die räumliche und zeitliche Generalisierbarkeit der Erklärungen zu überprüfen, wurden Fälle aus drei verschiedenen Regionen ausgewählt – Nordamerika, Europa und Nordostasien – die sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ereignet haben. Manche dieser Nötigungen wurden von Staaten unternommen, andere von nichtstaatlichen Akteuren. Einige waren von finanziellen Absichten getrieben, andere hatten Zielvorstellungen von Regimewechseln. Einige wurden zu Kriegen und Militäreinsätzen und andere endeten frühzeitig, weil die Zielstaaten schon vor einer Migration nachgaben.

In den folgenden vier Kapiteln werden die Geschehnisse im Kuba des Fidel Castro ausführlich behandelt, die zu einem Exodus von tausenden Kubanern in die USA führten, wird die Handelsweise der NATO im Kosovo-Konflikt detailliert beschrieben, wird die Haltung der USA – im Besonderen von Präsident Clinton, der sich selbst mit seiner Rhetorik unglaubwürdig machte und sich darin verfing – in der Krise der haitianischen Bootsflüchtlinge geschildert und schließlich die Situation von Nordkorea belichtet, als dieses Land in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts den Schirmherrn Sowjetunion verlor, sein „großer Führer“ Kim Il Sung verstarb, und im Zusammenhang damit Hungersnöte ausbrachen und eine Massenflucht von Nordkoreanern nach China einsetzte.

Es ist geradezu entlarvend, wie drei Präsidenten der USA auf die von Fidel Castro inszenierten Auswanderungsströme reagiert haben. Während Präsident Johnson noch mit Castro auf Augenhöhe verhandelte, was für die Emigranten bedeutete, dass sie in Amerika trotz des Widerstandes der Bevölkerung im Bundesstaat Florida relativ gut empfangen wurden, der jedoch durch adäquate finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für die Landesregierung und Gemeinden von Florida gemildert wurde, war Präsident Carter dermaßen in seiner Ideologie gefangen, dass er dem zweiten Ansturm von emigrierenden/flüchtenden Kubanern total hilflos gegenüberstand. Dies führte auch dazu, dass er als Präsident nicht mehr wiedergewählt wurde. Präsident Clinton nahm die Signale, die Castro beim dritten Erpressungsversuch aussandte, ebenfalls nicht wahr und veränderte kurzerhand eine dreißigjährige Praxis gegenüber Immigranten aus Kuba und Haiti. Fidel Castro ist es gelungen, zwei US-amerikanische Präsidenten auszutricksen, was genug Beweis dafür ist, wie wenig vorbereitet die amerikanische Regierung auf solche Ereignisse war, trotz der vielfältigen Warnungen aus Kuba und auch aus dem eigenen Land. Als Entschuldigung für Carter könnte man noch anführen, dass er in einem äußerst schwierigen Umfeld agieren musste, denn die Krisen im Iran und Afghanistan erforderten seine volle Aufmerksamkeit.

Im Anhang werden Zusammenfassungen von vierundsechzig anderen Erpressungsversuchen der migrationsgestützten Nötigung weltweit angeführt, von denen mehr als die Hälfte zumindest einige ihre beabsichtigten Ziele erreichten. Es ist spannend zu lesen, wie die diversen Regierungen sich in vergleichbaren Umständen verhalten haben. Dieses Buch von Kelly M. Greenhill ( im Originaltitel „Weapons of Mass Migration”) wurde im März 2010 von der Cornell University Press veröffentlicht und in Amerika viel beachtet. Die Autorin ist eine amerikanische Politikwissenschaftlerin und „associate professor” an der Tufts Universität in Boston. Leider wurde dieses Buch viel zu spät in Deutschland dem interessiert Publikum präsentiert. Denn das Vorwort zur deutschen Ausgabe wurde im November 2015 geschrieben. Somit wurde die „Flüchtlingskrise/Migrationskrise” in Europa, die sich in den Monaten davor in aller Heftigkeit abgespielt hat, nicht mehr berücksichtigt. Lehren aus dem Inhalt des Buches konnten bisher offensichtlich nicht gezogen werden. Nichtsdestotrotz ist das Buch deshalb so interessant und lehrreich, weil es uns und unsere demokratischen Regierungen besser darauf vorbereiten könnte, wie zukünftige Erpressungsversuche intelligenter zu parieren wären. Angesicht der ideologisch bedingten Voreingenommenheit vieler maßgeblicher Akteure ist dies allerdings nur eine vage Hoffnung.

Bearbeitungsstand: Montag, 25. November 2019

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