Von Gerald Brettner-Messler
Der Advent 2019 ist auch politisch eine Zeit der Erwartung, nämlich die einer neuen Bundesregierung. Während das Kommen des Weihnachtsfestes mit Gewissheiten verbunden ist, so gibt es aber hinsichtlich der nächsten Regierungspartnerschaft nur Mutmaßungen auf der Basis der aktuellen Gegebenheiten. „Macht er es oder nicht?“, lautet die bange Frage rechts der politischen Mitte unseres Landes, wenn es um eine mögliche Koalition von ÖVP-Obmann Sebastian Kurz mit den Grünen unter Werner Kogler geht.
Sebastian Kurz hat sich im Mai dieses Jahres auf ein riskantes Spiel eingelassen, als er den Regierungspakt mit den Freiheitlichen gebrochen hat. Der Vorwand, dass er mit einem Innenminister von der FPÖ nicht mehr weitermachen könne, weil die Gefahr der Behinderung der justiziellen Aufarbeitung der im Raum stehenden Rechtsbrüche des ehemaligen FPÖ-Obmannes und Vizekanzlers Heinz-Christian Strache bestünde, war leicht zu entkräften. Die Federführung bei solchen Ermittlungen liegt bei der Staatsanwaltschaft, die weisungsgebunden gegenüber dem Justizminister ist, der damals aus der ÖVP kam. Außerdem hätte im Innenministerium die Staatssekretärin der ÖVP, Karoline Edtstadler, die Aufsicht über die Aufarbeitung des Falles übernehmen können.
Die Ermittlungen gegen Strache stellten sich in der Folge auch als nicht sehr kompliziert dar. Drei Monate nach Bekanntwerden des Videos erklärte die Staatsanwaltschaft, dass die Ermittlungen wegen Korruption eingestellt würden (nicht aber die wegen Untreue). Als viel schwieriger erwiesen sich die Ermittlungen zu den Hintergründen der Entstehung des Videos. Bis heute gibt es dazu keine klaren Erkenntnisse. Während medial diverse „Einzelfälle“ – vielleicht das polit-mediale Schlagwort 2019 – in der FPÖ als große innenpolitische Problemzone dargestellt werden oder auch, um ein anderes Beispiel zu nennen, Personalentscheidungen des von der FPÖ nominierten ÖNB-Gouverneurs Robert Holzmann viel Raum gewidmet wird, ist der Sturz einer Regierung mit Geheimdienstmethoden – ein unerhörter Vorgang in der Geschichte der Zweiten Republik – offenbar lange nicht so interessant. Der öffentliche Diskurs ist bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen. Vielfach war zu hören, dass der Zweck der „Aufdeckung“ die kriminellen Mittel heiligte. Wobei ja der wahre Zweck die Zerstörung des Projektes einer erfolgreichen Mitte-rechts-Regierung war.
Wie dem auch sei: Kurz brauchte irgendeine gut klingende offizielle Begründung für die Beendigung der Koalition, nachdem die beiden Akteure des Videos, Heinz-Christian Strache und FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus, sofort zurückgetreten waren, um die Regierungszusammenarbeit zur retten. Mit Sicherheit war mit ein Entscheidungsgrund für die ÖVP, vom Partner FPÖ Unmögliches, nämlich den Rücktritt von Innenminister Herbert Kickl zu verlangen, Befürchtungen über eine innere Destabilisierung der FPÖ in Folge des Rücktrittes von Strache, der über so lange Zeit der bestimmende Faktor der Partei gewesen war, gemischt mit der Aussicht, aus der Krise des Partners Nutzen zu ziehen. Teile der ÖVP, die der Koalition mit den Freiheitlichen von Beginn an ablehnend gegenübergestanden sind, haben wohl auf Kurz eingewirkt, aus seinem „Irrtum“ von 2017 die Konsequenz zu ziehen.
Kurz hat dem Druck der vereinigten Linken in den Medien, der eigenen Partei und unter den Mitbewerbern nicht standgehalten und eine von der Mehrheit der Bevölkerung getragene Zusammenarbeit beendet. Wenn auch der Plan, bis zur Wahl (und weiter) mit den bisherigen ÖVP-Ministern und neuen, parteifreien Ministern weiterzuregieren, am von FPÖ und Liste Jetzt mitgetragenen SPÖ-Misstrauensantrag scheiterte, ist die ÖVP doch gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Bei der Nationalratswahl konnte sie ihre Führungsposition mit 37,5 Prozent ausbauen und verfügt damit über drei Optionen für eine Zweierkoalition, nämlich mit SPÖ, FPÖ und Grünen. Lediglich mit den Neos – sie erreichten 8,1 Prozent –, mit denen eine Partnerschaft politisch wohl machbar wäre, geht sich keine Mehrheit aus.
Die drei rein rechnerischen Koalitionsmöglichkeiten erwiesen sich aber rasch als nicht gleichbedeutend mit drei machbaren Varianten. Die SPÖ versank nach dem Wahltag weiter in politischer Orientierungslosigkeit. Viele Jahre schien es, als habe die Partei die Kanzlerschaft in Österreich gewissermaßen gepachtet, und nun liegen auf einmal mehr als 16 Prozentpunkte zwischen dem Wahlsieger und der Zweiten, die nur 21,2 Prozent bekam. Eine Neuauflage der Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ, die als „große Koalition“ über weite Strecken die Geschicke der Zweiten Republik bestimmten, ist kaum mehr denkbar. SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner ist angezählt, der weitere Kurs der Partei unklar, das Selbstverständnis der SPÖ auch nicht das eines kleinen Juniorpartners: alles Gründe, um in der Opposition zu bleiben.
Im ersten Nachwahlschock hat sich auch die FPÖ zunächst in der Opposition, für sie ein gewohntes Feld, gesehen. Im Wahlkampf bestand noch die Hoffnung, dass die Partei mit einem blauen Auge davonkommen würde. Auf das Ibiza-Video war sofort reagiert worden, mit Norbert Hofer ein geeigneter Nachfolger für Strache gleich zur Stelle, unterstützt vom erfolgreichen Ex-Innenminister Herbert Kickl. Einen weiteren Treffer konnte der Gegner noch punktgenau kurz vor der Wahl landen, gewissermaßen der Nachschlag zum Ibiza-Video, indem die großzügigen finanziellen Regelungen für Strache und das üppige Gehalt seiner Frau Philippa, die die Partei gewährt hatte, an die Öffentlichkeit gespielt wurden. Der Wohnkostenzuschuss und dass Strache seiner Frau einen gut dotierten Posten verschafft hatte, stieß auch Leuten sauer auf, für die die Ibiza-Affäre bereits erledigt war. Ein Verlust von fast 10 Prozentpunkten auf 16,2 Prozent war die Folge. Das Ergebnis war deutlich schlechter als erwartet, weil vor dem Bekanntwerden der Spesen rund 20 Prozent der Stimmen als erreichbar erschienen waren.
Aber diese 16,2 Prozent der österreichischen Wähler hatten für eine Partei gestimmt, die in der abgelaufenen Legislaturperiode an der Regierung gewesen war und im Wahlkampf für die Fortsetzung dieser Arbeit geworben hatte. Dass Parteichef Hofer nach der Wahl einer erneuten Regierungsbeteiligung eine Absage erteilt hat, erscheint angesichts des hohen Verlustes und der damit verbundenen schlechteren Verhandlungsposition verständlich. Es wurde aber so der Eindruck vermittelt, dass die Freiheitlichen den Grünen das Feld überlassen würden. Dass der FPÖ nunmehr die Legitimation zum Mitregieren fehle, wie Hofer meinte, dürften viele Wähler anders sehen. Immerhin geht aus dem Umstand, dass die meisten ehemaligen FPÖ-Wähler von 2017 ihre Stimme der ÖVP gegeben haben, hervor, dass sie mit der Regierungsarbeit zufrieden waren und eine Fortsetzung wollten. Dies ist aber nur mit der FPÖ möglich. Oder anders gesagt: die FPÖ wurde nicht wegen der politischen Inhalte abgewählt (sonst wären die Stimmen nicht zur ÖVP gewandert), sondern weil die Partei ein schlechtes Bild abgegeben hatte. Dieses Bild könnte zwar in der Opposition verbessert werden, aber auch eine erneute Regierungsbeteiligung würde das Ansehen der FPÖ wieder steigen lassen.
Zum Mitregieren sind alle Parteien grundsätzlich legitimiert, die im Parlament vertreten sind. Alles andere ist eine politische Entscheidung und im konkreten Fall eine Frage der Verantwortung – Verantwortung für die Umsetzung des Wählerwillens und für das Wohl der Republik. Kein FPÖ-Wähler will die Grünen in der Regierung, weil deren Inhalte so gar nicht mit freiheitlichen Positionen übereinstimmen. Und es sind die Inhalte, die zählen! Das mag banal klingen, angesichts mancher Wortspenden zu einer möglichen türkis-grünen Koalition entsteht aber der Eindruck, dass Inhalte dabei nur im Hintergrund eine Rolle spielen. So wurde von ÖVP-Vertretern immer wieder der „Charme“ von Türkis-Grün angesprochen. In der Politik geht es aber um Inhalte, die umgesetzt werden sollen, und nicht um Charme. Ob ehemalige ÖVP-Politiker in fortgeschrittenem Lebensstadium nachholen wollen, was sie 1968 versäumt haben, oder die jüngeren Generationen erfreut Schnittmengen im Lifestyle von Neubau-Bobos und Hietzinger Jeunesse dorée entdecken, ist nicht entscheidend, weil darauf kein Regierungsprogramm gebaut werden kann.
Viel ist den letzten Wochen über fehlende gemeinsame Inhalte von Türkis und Grün gesprochen worden. Hinzu kommt eine Frage, die weniger erörtert wurde: Beherrschen die Grünen das Geschäft des Regierens? Im Gegensatz zu den Freiheitlichen, denen Österreichs medialer Komplex traditionell wenig zutraut, werden die Grünen als reich an Kompetenz präsentiert. Den Beweis mussten sie, zumindest auf Bundesebene, noch nie antreten. Außerdem haben von 26 Abgeordneten nur drei Erfahrung im Nationalrat: Werner Kogler, Sigrid Maurer und Alma Zadic´ – auch nicht die besten Voraussetzungen für die Regierungsarbeit.
Die Frage, wie eine solche Koalition zwischen ÖVP und Grünen funktionieren kann, stellt sich derzeit das gesamte politische Österreich. Ein anderer Schluss, als eigentlich gar nicht, ist kaum möglich – wenn man davon ausgeht, dass beide keine großen inhaltlichen Abstriche machen werden. In der Frage der Migration ist Sebastian Kurz seit 2017 der freiheitlichen Programmatik gefolgt, der Spagat zu den Grünen wäre sehr breit. Welche Probleme im Bereich Klima und Umwelt entstehen können, hat ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit gezeigt. Im Vorarlberger Ludesch wurden Erweiterungen der Firmenareale des Fruchtsaftherstellers Rauch und des Aludosenherstellers „Ball Beverage Packaging GmbH“ mittels Volksabstimmung verhindert. Das Land hatte bereits einer entsprechenden Umwidmung der Landesgrünzone zugestimmt. Die Grünen jubelten, Kritik kam vom Wirtschaftslandesrat (ÖVP) und der Industriellenvereinigung Vorarlberg. Wenn auf Bundesebene ähnliche Gemengelagen von gegensätzlichen Interessen entstehen, wird eine gemeinsame Linie schwer zu finden sein. Das wissen natürlich die Beteiligten. Letztlich wird sich Kurz bei der Wahl seines künftigen Partners entscheiden müssen, ob er inhaltlich etwas weiterbringen möchte oder lieber taktische Manöver vollführt, in der Hoffnung, durch geschicktes Agieren auch längerfristig politisches Oberwasser zu behalten. Inhalte kann er mit der FPÖ umsetzen, mit den Grünen kann er bestenfalls gute Stimmung und Applaus in bestimmten politischen Kreisen erreichen, die den Grünen bzw. ihm die Macht sichern wollen.
Abseits von inhaltlichen Überlegungen könnte Kurz geneigt sein, eine Koalition mit den Grünen zu bilden, um keinem medialen Gegenwind ausgesetzt zu sein. Linksextremismus wird von den österreichischen Medien nicht thematisiert und gilt als gesellschaftlich akzeptabel, während im Fall einer freiheitlichen Regierungsbeteiligung die FPÖ ständig als extremistisch und dem Nationalsozialismus nahestehend dargestellt werden würde, indem in der Berichterstattung verzerrt, missinterpretiert oder aufgebauscht wird. Auch mediale und parteipolitische Kritik im Ausland würde gegenüber einer türkis-grünen Koalition weitgehend ausbleiben. Ungemach könnte eher von der grünen Basis drohen, wenn es zu Regierungsvorhaben kommt, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Werner Kogler, der den Grünen den Wiedereinzug in den Nationalrat und mit 13,9 Prozent das bislang beste Ergebnis beschert hat, verfügt aufgrund des Erfolges über innerparteiliche Autorität, die aber noch keiner Belastung ausgesetzt war. Zu weit kann Kurz den Grünen auch nicht entgegenkommen, um nicht in der Öffentlichkeit völlig an Glaubwürdigkeit zu verlieren bzw. innerparteilich Terrain einzubüßen. Sollte Türkis-Grün zustande kommen und dann scheitern, hätte Kurz den dritten Koalitionspartner „verbraucht“. Ob er auf diese Weise weiter Wahlerfolge feiern würde, ist fraglich.
Somit ist die innenpolitische Lage zu Ende 2019 von vielen Unwägbarkeiten gekennzeichnet. Politische Entscheidungen bergen mehr oder minder hohe Risikofaktoren. Enthüllungen in Sachen Ibiza-Video, Casinos-Austria-Vorstand oder Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung führen zu Verunsicherung und Misstrauen zwischen den politischen Akteuren, weil weitere Offenlegungen nicht ausgeschlossen werden können, gegenseitige Verhältnisse belastet sind und mögliche Implikationen der Vorkommnisse nicht erkennbar scheinen. Es bleibt zumindest die Hoffnung, dass die FPÖ die erfolgreiche Regierungsarbeit fortsetzen kann, denn vieles, das im Regierungsprogramm 2017 beschlossen wurde, harrt noch der Umsetzung.